Ist es übertrieben, wenn Staaten wie Frankreich, die USA oder die Niederlande das, was in der chinesischen Provinz passiert, einen Genozid nennen? Dass dort überwiegend muslimische Uiguren, die in der nordwestlichen Region Xinjiang vorherrschende Ethnie, in Umerziehungslager gesteckt, dass sie überwacht, verfolgt und gefoltert werden, ist hinlänglich bekannt.
Bestärkt werden die bekannten Umstände nun von neuen Beweisen. Am Dienstag veröffentlichte eine internationale Medienkooperation ein riesiges Datenleak. Die «Xinjiang Police Files» bieten Einblick ins Innerste des chinesischen Machtapparats. Sie beinhalten Tausende von Fotos inhaftierter Uiguren, deuten auf Folterszenen hin und belegen etwa, dass flüchtige Uiguren unverzüglich erschossen werden sollen. Das alles läuft in Chinas Politik unter dem Deckmantel der Terrorismusbekämpfung.
Wer Genozid hört, der denkt zuallererst an Vernichtungslager. Das sind die chinesischen Umerziehungslager kaum. Hier wird der Wille der Menschen gebrochen, ein kulturelles Erbe ausgelöscht.
Wie ein Genozid à la chinoise funktioniert, beschrieb indes der deutsche Anthropologe Adrian Zenz eindrücklich in einem Aufsatz, der 2021 im Magazin «Foreign Policy» erschienen ist. Zenz ist auch der Mann, der die «Xinjiang Police Files» von einem anonymen Hacker erhalten und sie dem internationalen Recherchenetzwerk weitergereicht hat.
Das Regime bedient sich dafür sowohl systematischer Geburtenkontrolle auf der uigurischen Seite sowie der gezielten Ansiedlung von Han-Chinesen in der mehrheitlich von Uiguren bewohnten Region. Zenz zitiert aus Verlautbarungen chinesischer Behörden etwa, dass sich der Anteil der Bevölkerung mit «negativer Energie» so «ausdünnen» soll. Die UNO-Völkermordkonvention von 1948 hält klipp und klar fest, was einen Genozid definiert: Etwa wenn verhängte Massnahmen zur «Verhinderung von Geburten innerhalb einer Gruppe» beabsichtigen, «eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe ganz oder teilweise zu zerstören».
BREAKING: huge trove of files obtained by hacking into Xinjiang police / re-education camp computers contain first-ever image material from inside camps, reveal Chen Quanguo issuing shoot-to-kill orders, Xi Jinping demanding new camps because existing ones are overcrowded. 🧵 pic.twitter.com/6K19Wxf0Lx
— Adrian Zenz (@adrianzenz) May 24, 2022
Chinas Uiguren-Politik ist nur eines der Themen, welche die Angst vor dem bevölkerungsreichsten Land schüren: In Hongkong wurde erfolgreich ein funktionierender Rechtsstaat geschleift. Gegenüber der aus seiner Sicht abtrünnigen Insel Taiwan betreibt Peking scharfe Kriegsrhetorik, sodass US-Präsident Joe Biden zuletzt Taiwan militärischen Beistand garantierte im Fall eines chinesischen Angriffs. Man will sich nicht ausmalen, was passiert, wenn sich im Pazifik die beiden Grossmächte USA und China bekriegen.
Und unter dem Deckmantel der Bekämpfung des Coronavirus werden immer neue Lockdowns verhängt, welche die betroffene Bevölkerung entrechten und die Wirtschaft abwürgen. Westliche Multis wenden sich bereits vom Riesen in Fernost ab, zuletzt Apple und Airbnb.
Dieser – freiwillige – Abzug aus dem sehr lukrativen chinesischen Markt darf jedoch nicht über die Bedeutung Chinas für den hiesigen Lebensstandard hinwegtäuschen. Als gigantischer Lieferant billiger Konsumgüter sowie von Rohstoffen, etwa seltenen Erden, und als riesiger Absatzmarkt für hiesige Industriezweige sorgt China mitunter für Wohlstand in Europa, auch in der Schweiz. In Deutschland wird deshalb gerade im Zusammenhang mit den «Xinjiang Police Files» diskutiert, wie der Unterdrückungspolitik Chinas zu begegnen ist.
Noch streitet der Westen über Öl- und Gasembargos gegenüber dem Aggressor Russland in der Ukraine. Was aber, wenn man dereinst zum Schluss kommen muss, dass China Putins Unterdrückungspolitik sogar noch in den Schatten stellt? Könnte sich der Westen überhaupt aus der Abhängigkeit von China lösen? Die Loslösung Europas von der Abhängigkeit von russischem Öl und Gas scheint angesichts dieser Frage wie ein Kinderspiel.
Chinesische Politik wird oft als rational und kühl durchdacht bezeichnet. Dieselben Attribute hafteten bis vor kurzem der Politik Wladimir Putins an.