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«Sicher ist sicher», sagt mir die innere Stimme, als ich am Samstagnachmittag im August 2013 durch die ukrainische Hauptstadt Kiew spaziere. «Geh in das nächste Schuhgeschäft und kaufe dir ein paar günstige Sneakers», wiederholt die Stimme.
In einem Schuhgeschäft am Chreschtschatyk, dem sechsspurigen Boulevard, der Einkaufsstrasse Kiews, finde ich für umgerechnet sechs Franken ein Paar weisse No-Name-Turnschuhe. Die sind zwar so stillos und kitschig, dass ich sie sonst nie im Leben anziehen würde. Aber für sechs Franken? Ok! Und, ich würde die trashigen Dinger sowieso nur einen Tag lang tragen. Danach ab in den Abfall damit.
Am Tag darauf fahre ich nach Tschernobyl, der verstrahlten Todeszone, 120 Kilometer nördlich von Kiew. Dort, wo genau vor 30 Jahren ein AKW in die Luft geflogen ist und sich die schlimmste Nuklear-Katastrophe der Menschheit ereignet hatte.
Schuhe, verseucht mit Cäsium-137, Strontium-90, Iod-131 oder gar mit Uran und Plutonium, will ich nun wirklich nicht in mein Reisegepäck nachhause nehmen. Plutonium hat immerhin eine Halbwertszeit von 24'110 Jahren. Die armen Schuhe.
Die Idee mit den Schuhen ist eher paranoider Art und hätte mich nicht im Geringsten vor Strahlen geschützt.
Am Sonntagmorgen gehe ich auf 8.30 Uhr zum vereinbarten Treffpunkt vor dem Mc Donalds-Restaurant auf dem Majdan-Platz. Der Ort, wo einige Monate später, 2014, mehr als 80 Regierungsgegner während Bürgerprotesten ihr Leben verlieren sollten.
Eine kleine Gruppe von Leuten wartet bereits. Das müssen sie sein, denke ich. Auffällig steht ein breit gebauter Mann Mitte 30 da. Er trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift «Hard Rock Cafe Chernobyl». Es ist Yuri Tatarchuk, der Tour Guide. Der Ukrainer wird uns – eine Reisegruppe von insgesamt 16 Personen – durch den Tag begleiten.
«Haben Sie die Bestätigung dabei?», will er wissen. Ich händige ihm ein Dokument aus, das ich einige Tage zuvor ausgefüllt habe. Passnummer, Name, Wohnort sowie einen unterschriebenen Haftungsausschluss. Nichts berühren, keine Fotos des havarierten Reaktors: Betreten der Sperrzone auf eigenes Risiko.
Mit einem Mercedes-Bus fahren wir etwa zwei Stunden Richtung Norden. Aus dem Fenster sehe ich die eurasische Steppe, kleine ukrainische Dörfer, ab und zu ein Bauernhaus, dann wieder Wald. Als «Unterhaltungsprogramm» spielt Yuri im Bus eine DVD-Dokumentation ab, die angeblich «die Wahrheit» über das Tschernobyl-Desaster erzählt.
Mit mir ihm Bus sitzen unter anderen vier Engländer, ein Ukrainer, zwei Belgier – Männer und Frauen – und drei dänische Touristen, die ich bereits einige Tage zuvor in einer Bar getroffen habe. Sie alle haben – wie ich auch – 100 Dollar für den Trip bezahlt.
Nach knapp zwei Stunden Fahrt erreichen wir den Checkpoint. Hier beginnt das Sperrgebiet mit einem Radius von 30 Kilometern um den Reaktor. Yuri fordert uns auf, auszusteigen und den uniformierten Männern, die vor einer Schranke stehen, unsere Ausweise zu zeigen. Nur wer auf ihrer Liste steht und einen gültigen Pass hat, darf die Zone betreten.
Nachdem alles geklappt hat, öffnet sich die Barriere und unser Bus fährt weiter, hinein in die «Todeszone», in ein Gebiet, das im April 1986 den Super-Gau erlebte. «Welcome to the forbidden Area», sagt Yuri durchs Mikrofon. «Euer Aufenthalt ist heute nicht gesundheitsschädigend, sondern entspricht etwa der Strahlenbelastung eines Atlantikfluges», muntert uns Yuri auf.
Eintages-Besucher – so habe ich vorher gelesen – kommen vor allem mit Gamma-Strahlen in Kontakt. Diese sind nicht gesundheitsschädigend. Nur in Reaktornähe wird mein Körper von Beta-Strahlen durchdringt, die Organe des Körpers schädigen können. Im Reaktor selbst gibt es tödliche Alpha-Strahlen. Doch soweit gehen wir nicht.
Nach etwa weiteren 20 Minuten tauchen erste Gebäude, Wohnhäuser und Industriegebäude auf. In der Ferne glaube ich, ein Atomkraftwerk zu erkennen. Wir steigen aus. Neben der Strasse liegt einer der zahlreichen Wasserkanäle, mit denen Wasser für die Kühlung der Reaktoren hergeleitet wurde.
«Es gibt hier keine Monsterfische», scherzt Yuri. Trotzdem erscheinen mir die Fische ziemlich gross. Yuri packt seinen Geigerzähler aus und hält ihn in die Luft. «0,21 Mikrosievert pro Stunde, ein Bruchteil von einem Millionstel Sievert, der Masseinheit für Strahlenbelastung. Nicht wirklich schlimm.
Danach hält er das Gerät ins Gras am Strassenrand. Der Zähler gibt sofort wilde Töne von sich und zeigt einen Wert von 2,1 Mikrosievert. «Am Boden ist die Strahlung meistens höher», so Yuri. Ein mulmiges Gefühl, obwohl diese Strahlenbelastung «nicht sehr hoch» sei.
Es ist verrückt: Obwohl alles verstrahlt ist, kann man die Strahlen weder sehen, riechen noch schmecken.
Nach weiteren drei Kilometern Fahrt erreichen wir Prypjat, die «Geisterstadt» im Sperrgebiet. Hier lebten bis einen Tag nach der Katastrophe 49'360 Menschen. Prypjat war eine sozialistische Planstadt, die 1970 auf der grünen Wiese buchstäblich aus dem Boden gestampft wurde. Hier lebten Menschen, die in den verschiedenen Reaktoren arbeiteten.
Obwohl die Strahlenbelastung im April 1986 das 600'000-Fache des «natürlichen» Strahlenniveaus erreichte, wurden die Bewohner erst einen Tag nach der Nuklearexplosion evakuiert. «Man sagte den Einwohnern, sie könnten nach drei Tagen wieder zurückkehren» erklärt Yuri. Eine sowjetische Lüge. Zurückkehren sollte nie wieder jemand.
Verseucht ist eine Fläche von 40'000 Quadratkilometern, ein Gebiet, so gross wie die Schweiz. Eine gefahrlose Rückkehr wird frühestens in 300 oder sogar 1000 Jahren möglich sein.
Der Aufenthalt in Prypjat ist surreal. Unheimlich und faszinierend zugleich. Eindrücklich ist die Stille. Kein Motorenlärm, keine gewöhnliche Stadt-Akustik, dafür Häuser mit eingetretenen Türen, zerborstenen Fensterscheiben und Bäumen, die sich allmählich die Gebäude einverleiben und sich den Fassaden entlang schlängeln.
Ich zwänge mich durch Sträucher – die ich mich wegen der Verstrahlung fast nicht zu berühren traue – in ein Schulzimmer. Dort stehen noch Schulbänke, auf denen Schulbücher herumliegen. Überall liegen Glasscherben, Metallröhren und Holzstücke herum. Bei jedem Tritt bin ich vorsichtig. Ich will nicht in einen der vorstehenden Nägel treten, die aus dem Boden ragen.
Im «Zentrum» von Prypjat besuchen wir den berühmten verlassenen Jahrmarkt. Autoscooter und Riesenrad stehen seit 1986 unverändert da. Nie haben in den Bahnen Kinder vor Freude gekreischt – der Reaktor explodierte fünf Tage vor der geplanten Eröffnung der Anlage.
Nach dem irrwitzigen «Städtetrip Prypjat» fahren wir mit dem Bus in eine nahegelegene Kantine für Forscher und Bauarbeiter. Es gibt Schweinefleisch und Kartoffeln mit Reis und geraffelten Rüebli, dazu Schinken und Tomaten. Zum Dessert Pancakes. Das heisst, der eigentliche «Dessert» des Tages kommt noch.
Jetzt fahren wir zur eigentlichen Hölle von Tschernobyl. Zum Reaktor Nummer 4 Lenin.
«Ground Zero» ist ein befremdlicher Anblick. Wir stehen etwa 150 Meter vom zerstörten Reaktor entfernt. Ein ungutes Gefühl sagt mir, hier sollst du nicht zu lange bleiben. Die Strahlendosis beträgt hier über 3 Mikrosievert pro Stunde, 20 Mal mehr als die Belastung in einer normalen Grossstadt. Wir halten uns nur etwa fünf Minuten hier auf.
Während ich das abscheuliche Monster anstarre und in Gedanken versinke, durchbricht Yuri die Stille. «Fotografieren des Reaktors ist verboten», ruft er in die Gruppe. Dennoch schiesse ich heimlich ein Foto.
Aus der Ferne sieht man Bauarbeiter, die neben dem Reaktor einen Sarkophag aus 25'000 Tonnen Stahl bauen, der 2017 über den Reaktor gestülpt werden soll, um die Strahlung einzudämmen. Dieser soll 100 Jahre halten. Und dann? Plutonium hat eine Halbwertszeit von einigen Tausend Jahren, Uran sogar einige Milliarden Jahre.
Wir steigen wieder in den Bus. In der Ferne siehe ich nochmals das Riesenrad. Im Bus ist es auf der Rückfahrt nach Kiew ruhiger als am Morgen. Keine DVD-Show, wenige Gespräche unter den Teilnehmern.
Die Reise war bizarr und eindrücklich. Ich weiss nun, wovon in den Medien die Rede ist, wenn über Tschernobyl berichtet wird. Ich kenne den Ort und habe mich mit der Katastrophe eingehend befasst. Ich schaue aus dem Fenster in die ukrainische Landschaft. Meine Gedanken kreisen.
Was sind die Folgen dieser Katastrophe für künftige Generationen? Mit welchen gesundheitlichen und sozialen Problemen kämpfen die Überlebenden bis heute? Wie abstrakt ist eine Halbwertszeit von einer Million Jahren für unseren Zeitbegriff? Und: Was wäre, wenn in der Schweiz ein AKW explodiert? 30-Kilometer Radius! Sperrgebiet.
In der Schweiz müsste man fast das gesamte Mittelland evakuieren. Unbewohnbar für die kommenden 500 Jahre. Wahnsinn.