In den über 1000 Zimmern des «Weissen Palasts» in Ankara gab es am Sonntagabend wohl keine rauschende Wahlparty. Die türkischen Wähler haben ihrem erfolgsverwöhnten Präsidenten Recep Tayyip Erdogan einen dicken Strich durch die Rechnung gemacht: Seine Partei hat zum ersten Mal seit 13 Jahren die absolute Mehrheit verloren und ist nun auf einen Koalitionspartner angewiesen.
Das überraschende Wahldebakel der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP eröffnet die Chance, dass sich die Türkei wieder stärker an Europa annähert. Das Verhältnis zur EU hatte sich seit dem offiziellen Beginn der Beitrittsverhandlungen 2005 merklich abgekühlt: Die brachiale Rhetorik Erdogans und die sture türkische Haltung in der Zypernfrage schreckte die Europäer ab. Und ganz grundsätzlich fragten sich viele, ob ein mehrheitlich muslimisches Land mit 77 Millionen Einwohnern sich in die EU integrieren lasse. Ernüchtert über die ambivalente europäische Haltung entfernte sich Ankara seinerseits zusehends von Europa.
Dabei war der EU-Beitritt schon seit 1963 eine Priorität der türkischen Aussenpolitik. Die Orientierung nach Europa liegt gewissermassen in der DNA des modernen türkischen Staates: Der Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk verordnete der jungen Republik, die 1923 aus den Trümmern des Osmanischen Imperiums entstand, eine entschieden westliche und laizistische Ausrichtung. Sultanat, Kalifat und Scharia wurden abgeschafft, Koedukation und lateinische Schrift eingeführt.
Atatürks politisches Erbe, der Kemalismus, hielt den Staat auf stabil westlichem Kurs; die Türkei wurde schon 1952 NATO-Mitglied. Besonders die Streitkräfte verstanden sich als Garant der kemalistischen Prinzipien und scheuten sich nicht, bei deren Gefährdung zu putschen – zuletzt 1980.
Mit dem Ende des Kalten Kriegs und mit dem Erstarken des politischen Islams verschoben sich die Gewichte allmählich zuungunsten des Kemalismus. Zugleich begann sich auch die strategische Ausrichtung der türkischen Aussenpolitik zu verändern. Die Modernisierung und Demokratisierung des Landes – die im Hinblick auf einen EU-Beitritt unerlässlich war – wurde zwar weiter vorangetrieben, doch zugleich bereitete die Renaissance des Islams eine verstärkte Hinwendung zum arabischen Raum vor.
Symptomatisch dafür war die Weigerung, dem NATO-Bündnispartner USA 2003 den Einsatz von Bodentruppen gegen den Irak von türkischem Boden aus zu erlauben. Sympathien in den arabischen Ländern gewann die Türkei zusätzlich mit ihrer Distanzierung von Israel, die mit dem Gazakrieg 2008 einsetzte. Spätestens seit 2010, als ein israelisches Kommando die von türkischen Islamisten organisierte «Friedensflottille» für Gaza gewaltsam aufbrachte, herrscht Eiszeit zwischen Ankara und Jerusalem, zumal Erdogan sich als «einziger einflussreicher Führer» stilisiert, «der sich gegen die Barbarei Israels wendet.»
Zunehmend verstand sich die Türkei auch als potenzielle Schutzmacht der turksprachigen Völker Zentralasiens, die nun nicht mehr unter der Fuchtel Moskaus standen. Ergänzt wurde dieser «Neo-Osmanismus» durch ein verstärktes Engagement auf dem Balkan, namentlich in Bosnien, wo Ankara mit Stiftungen und Entwicklungshilfeprojekten präsent ist.
Als dann im «arabischen Frühling» ein arabischer Despot nach dem andern stürzte, galt dies als grosse Chance für die Türkei. Dank ihrer Versöhnung von Islam und Modernität konnte sie als Vorbild für die arabischen Reformbewegungen dienen. Doch trotz der verheissungsvollen Ausgangslage stand Ankara bald vor einem diplomatischen Scherbenhaufen. Aus dem 2009 von Aussenminister Davutoglu stolz angekündigten Ziel «Null Probleme mit Nachbarn» ist gemäss Spöttern «Null Nachbarn ohne Probleme» geworden.
Den Flirt mit dem kurzlebigen Regime der Muslimbruderschaft in Ägypten unter Präsident Mursi bezahlte Ankara mit der erbitterten Feindschaft des gegenwärtigen Präsidenten al-Sisi. Die trotz offizieller Dementis zumindest indirekte Unterstützung radikaler islamistischer Gruppierungen wie der al-Nusra-Front in Syrien erzürnt nicht nur den syrischen Diktator Assad, einst ein Verbündeter der Türkei, sondern irritiert auch den Westen. Zugleich gefährdet sie die Beziehungen zum schiitischen Iran und zur schiitisch beherrschten irakischen Regierung.
Die Verschlechterung der Beziehungen zu Israel und die Entfremdung von der EU runden das Bild der diplomatischen Isolation ab. Statt sich zur regionalen Ordnungsmacht aufzuschwingen, hat die Türkei an Einfluss verloren. Während die «neo-osmanische» Aussenpolitik mithin auf Grund gelaufen ist, haben sich nun in den Wahlen auch die Grenzen der innenpolitischen Macht der AKP gezeigt. Schon die massiven Proteste auf dem Taksim-Platz in Istanbul hatten 2013 die Regierung Erdogan herausgefordert.
Nachdem die Wähler den zunehmend autoritären und machtvergessenen Erdogan abgestraft haben und die AKP auf einen Koalitionspartner angewiesen ist, besteht auch die Gelegenheit zu einer aussenpolitischen Kurskorrektur. Für die Europäer, die sich immer mehr von ihrem grossen Nachbarn im Südosten abgewendet haben, könnte sich dies lohnen.
Das Land an den Meerengen ist nicht nur wirtschaftlich interessant, es ist auch strategisch bedeutsam. Die Türkei verfügt selber zwar nicht über grosse Erdölvorkommen, gewinnt aber als Transitland für Erdöl und Erdgas aus Zentralasien immer mehr an Bedeutung – umso mehr, als die westlichen Beziehungen zu Russland sich stark abgekühlt haben. Darüber hinaus ist die Türkei auch der «Wasserturm des Nahen Ostens»: Hier entspringen der Euphrat und der Tigris, die danach Syrien und den Irak durchfliessen.
Als Frontstaat zu diesen beiden krisengeschüttelten Staaten und als Zufluchtsort für inzwischen beinahe zwei Millionen Flüchtlinge aus der Region kann die Türkei zudem bei der Suche nach einer Lösung nicht übergangen werden. Auch wenn in Europa die Bedenken gegen einen EU-Beitritt Ankaras derzeit unüberwindbar sein dürften, sind die Europäer gut beraten, die Türkei als Partner an Europa zu binden.