Herr Kepel, warum eröffnet ein in Frankreich geborener und aufgewachsener junger Muslim das Feuer auf seine Landsleute oder sprengt sich in die Luft?
Gilles Kepel: Weil diese Leute mit einer Ideologie indoktriniert worden sind, die wir «dschihadistischer Salafismus» nennen. Diese Ideologie überzeugt junge Menschen davon, mit den Werten ihrer französischen Identität zu brechen, sich von ihr loszusagen. Treue empfinden sie alleine den religiösen Würdenträgern dieser Ideologie gegenüber. Natürlich können bei Attentätern auch soziale, psychologische oder politische Gründe eine Rolle spielen. Aber wer mit der eigenen Situation unzufrieden ist, wer psychotisch oder neurotisch veranlagt ist oder wer sich gegen die Mächtigen auflehnt, der tötet nicht notwendigerweise im Namen Allahs seine Landsleute.
Sie spielen auf ihren Streit mit dem Politologen Olivier Roy an, der das Phänomen der Dschihadisten mit den linksextremistischen Gruppierungen der 70er Jahre vergleicht. Er sieht die Attentäter als junge Menschen mit gescheiterten Biografien, die einen radikalen Bruch mit der Gesellschaft suchten. Ihre Beweggründe seien primär psychologisch, nicht religiös. Der radikale Islam dient ihnen laut Roy dabei nur als Vehikel, das die Illusion der Selbstläuterung und ein neues Selbstwertgefühl bietet.
Diejenigen, welche dieses Phänomen mit den Roten Brigaden oder der RAF vergleicht, machen es sich zu einfach. Sie unterschätzen die Kraft dieser extremistischen religiösen Ideologie. Die Rotbrigadisten sprengten sich nicht in die Luft. Sie dachten nicht, dass sie im Tod ein Paradies mit 72 Jungfrauen erwartet.
Warum ist Europa ins Visier von dschihadistischen Anschlägen gerückt?
Europa und der Westen als Ganzes werden als Domäne der Gottlosigkeit angesehen. Die Dschihadisten sehen sich im Krieg mit diesen Ländern und ihren Bewohnern. Das gibt ihnen in ihren Augen das Recht, das Blut der Ungläubigen und der vom rechten Glauben abgefallenen Muslime in diesen Länder zu vergiessen.
Charlie Hebdo, Bataclan, Nizza: Warum trafen die Terroranschläge der vergangenen Jahre so häufig Frankreich?
Frankreich ist das europäische Land mit der grössten muslimischen Bevölkerung. Trotzdem gab es in Frankreich zwischen 1995 und 2011 keinen Anschlag mit dschihadistischem Hintergrund, während es etwa in Madrid 2004 oder in London 2005 zu blutigen Attentaten kam. Diese Tatsache ist dem erfolgreichen Kampf der französischen Sicherheitsdienste gegen die pyramidenartigen Strukturen der al-Kaida zu verdanken, welche für die zweite Generation des Dschihadimsus stehen. Die Geheimdienste verstanden deren Funktionsweise und verhafteten einen Grossteil ihrer Sympathisanten.
Was hat sich geändert?
Der Wendepunkt waren die Morde an französischen Soldaten und jüdischen Schulkindern in Toulouse und Umgebung im März 2012. Der Täter, Mohammed Merah, war der erste Exponent der sogenannten dritten Generation des Dschihadismus. Die Sicherheitsdienste waren mit diesem Anschlag überfordert, der sich stark vom bisherigen Modell unterschied. Merah gehörte keiner festen Organisation an, war aber Teil eines losen Netzwerks. In der Folge wurden viele junge Männer wie Merah für den Dschihad rekrutiert. Die Behörden verstanden nicht, was passierte und konnten deshalb nicht verhindern, was zwischen Januar 2015 und Juli 2016 geschah: Die Serie von Anschlägen vom Angriff auf Charlie Hebdo über die Attentate von Paris und Nizza bis zum Mord am Priester Jacques Hamel in der Normandie. Seither verlagern sich die Angriffe verstärkt in andere Länder.
Weshalb?
Als Reaktion investierten die französischen Sicherheitsdienste viel Geld und sind heute besser dazu in der Lage, diese Netzwerke zu überwachen. Frankreich hat einen stark zentralisierten, relativ effizienten Polizeiapparat. Aus diesem Grund haben sich die Anschläge in Länder mit sehr dezentralen Sicherheitsdiensten verlagert: Deutschland, Grossbritannien, Katalonien, und vor allem Belgien, das mit seinen zerstrittenen Sprachregionen in dieser Hinsicht lange ein Paradies für die Terroristen war.
Der «Islamische Staat» ist militärisch unter Druck und hat seine Hochburgen weitgehend verloren. Welche Auswirkungen hat das auf den Terror in Europa?
Für die Dschihadisten ist es schwieriger geworden, sich zu koordinieren. Die Attentate beim Pariser Bataclan und vor dem Stade de France vom 13. November 2015 wären in dieser Form heute nicht mehr umsetzbar. Sie waren nur umsetzbar, weil sich die Attentäter mit ihren Hintermännern im Territorium des «IS» ungestört koordinieren und quer durch Europa zum Anschlagsziel reisen konnten. Das wäre heute nicht mehr möglich.
Hat der «IS» auch an Anziehungskraft verloren?
Ganz eindeutig. Das sieht man, wenn man abgefangene Nachrichten von vor 12 Monaten anschaut. Damals prahlten seine Anhänger: «In einem Jahr werden wir eure Frauen und Kinder auf ‹IS›-Sklavenmärkten in Paris, Rom und London verkaufen.» Heute würde die ganze Welt darüber lachen. Es ist eine Demoralisierung unter seinen Anhängern festzustellen: Durch die Niederlagen wird klar, dass der «Islamische Staat» nicht das ist, was er zu versprechen vorgibt. Der «IS» sucht derzeit nach einer neuen Strategie. Klar ist: Den Überraschungseffekt hat er eingebüsst.
Sie verweisen immer wieder auf die Bedeutung des Manifests von Abu Musab al-Suri von 2005. Der Syrer rief zu Anschlägen in Europa auf, um die Gesellschaft zu spalten und einen Bürgerkrieg zwischen der muslimischen Minderheit und der Mehrheitsgesellschaft zu provozieren. Sind die Dschihadisten diesem Ziel näher gekommen?
Nein, in dieser Hinsicht haben sie versagt. Zentral ist, dass es den Dschihadisten nicht gelang, in die demokratischen Wahlprozesse einzugreifen. In Grossbritannien versuchten sie, mit Anschlägen während des Wahlkampfs, diesen zum Erliegen zu bringen. Der «IS» versucht bewusst, die extreme Rechte zu stärken. In Frankreich wollten sie den Durchmarsch des Front National begünstigen, in Deutschland denjenigen der AfD.
Aber rechtspopulistische Parteien haben doch flächendeckend zugelegt in den letzten Jahren.
Ja und Nein. In Frankreich etwa befindet sich der Front National nach der Niederlage Marine Le Pens gegen Emmanuel Macron vor einer Parteispaltung. Die Übernahme der Regierung durch Parteien der extremen Rechten ist nirgendwo gelungen. Die Dschihadisten haben es auch nicht geschafft, die europäischen Muslime für sich zu mobilisieren. Das Kalkül von Abu Musab al-Suri war ja folgendes: Durch die Attentate ein Klima zu schaffen, in dem sich Muslime ausgegrenzt fühlen und den Dschihadisten in die Arme getrieben werden. Dieser Plan ist nicht aufgegangen.
Wie bewerten sie die Reaktion der europäischen Bevölkerung auf den Terrorismus?
Die Menschen haben mit viel Gelassenheit und Würde reagiert. Das ist eines der besten Mittel, um die Terroristen zu entmutigen und ihnen die Rekrutierung von Nachwuchs zu erschweren.
In den letzten Jahren war Europa von einer Welle von Terroranschlägen betroffen. War das eine einmalige Häufung oder gehört der Terror ab jetzt als neue Normalität zu unserem Leben?
Es ist unmöglich, die Zukunft vorherzusagen. Aber die Terrorwelle der letzten Jahre fand auf jeden Fall unter ganz speziellen Umständen statt: Es war die Kombination aus der Eroberung eines Territoriums durch den «Islamischen Staat» und dem Aufkommen der dritten, netzwerkartig organisierten Generation des Dschihadismus. Dieses Zusammentreffen zweier Faktoren, welches die europäischen Geheimdienste und die Politik überforderte, gab den Dschihadisten einen strategischen Vorteil. Unterdessen ging dieser Vorteil verloren. Deshalb kann man einen Rückgang des Phänomens beobachten. Es ist möglich, dass der Dschihadismus eine neue Strategie entwickelt, um diesen Vorteil zurückzugewinnen. Aber im Moment sehe ich keine Anzeichen dafür.
Vielerorts in Europa dominiert die Flüchtlingsfrage die politische Debatte. Wie muss die Politik aus ihrer Sicht darauf reagieren?
Es braucht in erster Linie eine einheitliche europäische Politik. Bisher litt die EU unter zu wenig Abstimmung. Ein positives Signal ausgesendet hat das Treffen zwischen EU-Regierungschef und afrikanischen Staatsoberhäuptern Ende August in Paris. Das Ziel, Flüchtlinge mit anerkanntem Asylgrund im Vornherein zu identifizieren und ihnen Asyl zu gewähren und gleichzeitig Wirtschaftsflüchtlinge abzuhalten, ist richtig. Dafür braucht es aber ein koordiniertes Vorgehen der EU, gemeinsame Militär- und Polizeikräfte. Die Herausforderung wird sein, ob das deutsch-französische Duo nach den Bundestagswahlen und mit dem sich abzeichnenden EU-Austritt der Briten für neue Dynamik in der EU sorgt.
Wie kann Europa vor Ort im Nahen Osten die Fluchtursachen bekämpfen?
Zentral ist: Der Krieg in Syrien ist beinahe vorüber. Die Russen kontrollieren das Land weitgehend – unter anderem wegen der ungeschickten Diplomatie der Europäer. Es geht nun um den Wiederaufbau des Landes. Heute gibt es Syrer, die in ihr Land zurückkehren, weil sie sich davor fürchten, dass sonst jemand anderes ihre Häuser und ihre Felder in Beschlag nimmt. Der Wiederaufbau und die Neuordnung der ganzen Region wird einen grossen Einfluss auf die künftige Entwicklung haben.