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Wie Cherson in wenigen Tagen fiel – und jetzt wohl wieder frei wird

Wie Cherson in wenigen Tagen fiel – und jetzt (vielleicht) wieder frei wird

Am Mittwoch hat das russische Verteidigungsministerium den Befehl zum Rückzug vom rechten Dnipro-Ufer gegeben. So wird auch die besetzte Stadt Cherson frei. Das ist ihre Geschichte.
10.11.2022, 12:1611.11.2022, 06:34
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Die Stadt Cherson war die erste grosse ukrainische Stadt, die während des russischen Angriffskriegs in der Südukraine erobert wurde. Jetzt, gut 8 Monate später, hat die russische Armee angekündigt, sich aus der Stadt zurückzuziehen. Es bleiben Schutt, Trümmer und Elend.

Ein knapper Überblick über die Ereignisse in der Stadt und der Oblast Cherson:

    Die Stadt Cherson

    Am 24. Februar drangen russische Truppen von Süden her über die Krim in die Oblast Cherson ein. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj erklärte damals:

    «Unsere Truppen liefern sich in der Nähe von Cherson heftige Kämpfe, der Feind drängt von der besetzten Krim her vor.»

    Bereits am Abend erreichten die russischen Truppen die Stadt Cherson und sicherten sich einen strategisch wichtigen Übergang über den Fluss Dnipro. In heftigen Gefechten wurde die Brücke von den Ukrainern zunächst zurückerobert, bevor sie sofort wieder in russische Hände fiel. Bilder von toten Soldaten und zerstörten Militärfahrzeugen tauchten in den sozialen Medien auf. Das ukrainische Militär teilte mit:

    «In Cherson ist die Situation schwierig.»

    In den folgenden Tagen war Cherson heftig umkämpft. Zuerst hiess es seitens der ukrainischen Lokalbehörden, dass sich die russischen Streitkräfte aus Cherson zurückgezogen hätten. Fast gleichzeitig vermeldete das russische Verteidigungsministerium, dass Cherson eingekesselt und teilweise eingenommen sei.

    Am frühen Morgen des 1. März erklärten ukrainische Offizielle, dass die russischen Streitkräfte erneut vorrückten. Unter schwerem Beschuss umzingelten die russischen Streitkräfte die Stadt.

    Im Laufe des Tages stürmten die russischen Streitkräfte die Stadt. Der Bürgermeister von Cherson, Ihor Kolychajew, ordnete an, dass die Zivilbevölkerung in ihren Häusern und Bunkern bleiben solle. Er gab weiter bekannt, dass viele zivile Einrichtungen, darunter Schulen und Hochhäuser, direkt unter Beschuss genommen worden seien. Kolychajew behauptete weiter, dass russische Soldaten am 1. März auf mit Molotow-Cocktails bewaffnete Bürger geschossen hätten.

    Bereits am 2. März gab Kolychajew die Stadt auf: Eine Gruppe von etwa zehn russischen Soldaten – darunter ein Kommandeur – drang in das Gebäude des Stadtrats ein und begann Verhandlungen mit Kolychajew. Am Abend gab der ukrainische Politiker bekannt, dass er die Stadt übergeben habe und dass das ukrainische Militär nicht mehr in Cherson präsent sei:

    «Hier gibt es keine ukrainische Armee mehr. Die Stadt ist umzingelt.»

    Weiter bestätigte er, dass bei den Kämpfen rund 300 ukrainische Soldaten und Zivilisten getötet und teilweise in Massengräbern verscharrt worden seien.

    Die Bewohnerinnen und Bewohner Chersons liessen sich von dieser Meldung aber nicht einschüchtern. Etwa 2000 Personen sollen tags darauf durch das Stadtzentrum gezogen sein.

    Am 6. Mai 2022 besuchte der Sekretär des Generalrats der Putin-Partei «Einiges Russland», Andrej Turtschak, die Stadt Cherson. Er liess verlauten:

    «Russland ist für immer hier. Daran sollte es keinen Zweifel geben. Es wird kein Zurück in die Vergangenheit geben.»

    Doch damit sollte er nicht recht behalten: Am 3. November 2022, Monate nach Ende der Schlacht, entfernten die russischen Streitkräfte ihre Flagge vom Verwaltungsgebäude der Stadt und rieten den verbliebenen Menschen, die Stadt zu verlassen und den Fluss zum Südufer zu überqueren. Am 9. November kündigte Armeegeneral Sergei Surowikin an, dass die russischen Streitkräfte die Stadt verlassen und zum Süd- oder Linksufer ziehen würden. Mehr dazu weiter unten.

    Die Oblast Cherson

    Nach der Übernahme der Stadt wurde die Oblast Cherson von den russischen Streitkräften nach und nach besetzt.

    Mehrere kleine Siedlungen, aber auch Städte mit teilweise bis zu 45'000 Einwohnern, wurden im Februar und März von den Russen eingenommen. Zwischen Juni und Oktober gelang es den ukrainischen Streitkräften, einige Siedlungen wieder zurückzugewinnen. Trotzdem: Ein Grossteil der Oblast Cherson blieb unter russischer Besatzung.

    Ende September wurde unter anderem für die Oblast Cherson ein von der internationalen Gemeinschaft nicht anerkanntes Referendum abgehalten, um Russland beizutreten. So annektierte Russland die Oblast am 30. September – einschliesslich Teilen, die es zu diesem Zeitpunkt nicht kontrollierte.

    Sowohl bevor als auch nach der Annexion per Referendum führten die ukrainischen Streitkräfte immer wieder zielgerichtete und gut organisierte Kampagnen in der Oblast Cherson durch, um russische Stellungen, Militäranlagen, Versorgungszentren, Munitionsdepots und Logistikknoten anzugreifen. Zudem starteten sie immer wieder Angriffe auf Brücken über den Dnipro. All dies habe die Möglichkeiten der russischen Streitkräfte beeinträchtigt, die Truppen am Westufer zu versorgen, schreiben die Strategieexperten vom «Institute for the Study of War» (ISW).

    epa10215950 Russian President Vladimir Putin (C) with Head of the Donetsk People's Republic Denis Pushilin (2-R), Head of the Luhansk People's Republic Leonid Pasechnik (R), Head of the Zapo ...
    Die Führer der per Referenden annektierten Oblasten Luhansk (r.), Donezk (2. v. r.), Saporischschja (2. v. l.) und Cherson (l.) scharen sich um Putin, 30. September 2022.Bild: keystone

    Diese Kampagne der ukrainischen Streitkräfte hat nun Früchte getragen: Die russischen Streitkräfte ziehen sich wieder aus Teilen der Oblast Cherson zurück. Der russische Verteidigungsminister Sergei Schoigu ordnete am 9. November während eines inszenierten Fernsehtreffens den Abzug russischer Truppen über den Fluss Dnipro zum östlichen (linken) Ufer zu beginnen. Personal, Waffen und Ausrüstung sollen sicher über den Dnipro transportiert werden. Das gesamte russische Kontingent werde wohl einige Zeit brauchen, um sich über den Fluss Dnipro zurückzuziehen, schreibt das ISW. Weiter heisst es da:

    «Die Schlacht um Cherson ist noch nicht vorbei, aber die russischen Streitkräfte sind in eine neue Phase eingetreten.»

    Die Führung in Kiew reagiert derweil skeptisch auf die Ankündigung aus Moskau. «Die Ukraine sieht keine Anzeichen dafür, dass Russland Cherson ohne Kampf aufgibt», schrieb der Berater des Präsidentenbüros, Mychajlo Podoljak, auf Twitter. Zu t-Online meinte Podoljak: «Wir sehen keine russischen Truppenbewegungen, die die Aussagen der russischen Militärführung bestätigen würden.»

    Die Bilder

    Mittlerweile eines der bekanntesten Bilder aus Cherson: Ein russischer Soldat bewacht am 20. Mai 2022 in der Stadt Cherson einen Bereich an der Allee der Heldentaten. Daneben ist eine Nachbildung der «Siegesfahne» zu sehen:

    FILE - A Russian soldier guards an area at the Alley of Glory exploits of the heroes - natives of the Kherson region, who took part in the liberation of the region from the Nazi invaders, in Kherson,  ...
    20. Mai 2022.Bild: keystone

    Zerstörung in einem Wohnhaus in Archanhelske, in der nördlichen Oblast Cherson:

    epa10290281 Destruction inside a residential building in Arkhanhelske, in the northern Kherson region, 06 November 2022. The city of Kherson on the Black Sea coast was seized by Russia in the first mo ...
    6. November 2022. Bild: keystone

    Ein ukrainischer Soldat überprüft die von russischen Soldaten ausgehobenen Gräben in einem zurückeroberten Gebiet in der Region Cherson:

    A Ukrainian serviceman checks the trenches dug by Russian soldiers in a retaken area in Kherson region, Ukraine, Wednesday, Oct. 12, 2022. (AP Photo/Leo Correa)
    12. Oktober 2022.Bild: keystone

    Ein Bewohner eines Altersheims blickt aus dem Fenster eines Busses, als russische Rettungskräfte eine Seniorenresidenz evakuieren:

    epaselect epa10288459 A resident looks from the window of a bus as Russian rescuers evacuate a geriatric boarding house on the left bank of the Dnieper river, in Kherson, Kherson region, Ukraine, 05 N ...
    6. November 2022.Bild: keystone

    Russische Rettungskräfte helfen einer Seniorin die Treppe runter, während sie ein Altersheim evakuieren:

    epa10288463 Russian rescuers helps to evacuate residents of a geriatric boarding house on the left bank of the Dnieper river, in Kherson, Kherson region, Ukraine, 05 November 2022. On 31 October, the  ...
    5. November 2022.Bild: keystone

    Einheimische, die aus Cherson evakuiert wurden, kommen am Bahnhof in Dschankoj auf der Krim an, wo vorübergehende Unterbringungszentren eingerichtet wurden:

    epa10257292 Local people evacuated from Kherson arrive to railway station in Dzhankoy, Crimea, 21 October 2022, where temporary accomodation centers have been set up. Kherson Region acting Governor Sa ...
    21. Oktober 2022.Bild: keystone
    epa10264736 A Ukrainian soldier searches for explosives at a recapture area in the north of Kherson, Ukraine, 25 October 2022. Russian troops on 24 February entered Ukrainian territory, starting a con ...
    Ein ukrainischer Soldat sucht in einem zurückeroberten Gebiet im Norden der Stadt Cherson nach Sprengstoff, 25. Oktober 2022.Bild: keystone

    (yam)

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    Eidg. dipl. Kommentarspalter
    10.11.2022 13:08registriert Dezember 2015
    Die Bildlegenden sind teils falsch. Russische „Rettungskräfte“ „retten“ und „evakuieren“ nicht Bewohnerinnen und Bewohner. Sie säubern die Region ethnisch. Hunderttausende wurden bereits verschleppt, darunter Tausende Kinder, die in Russland zur Adoption freigegeben werden.
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    _kokolorix
    10.11.2022 13:58registriert Januar 2015
    Noch ist gar nichts gefallen.
    Die russen sind wohl noch am rateburgern, wie sie das anstellen können, ohne dass es in einer haltlosen Flucht ans Ufer des Dnjepro endet.
    Sowas ist miltärisch äusserst anspruchsvoll, eine Disziplin wo russland nicht gerade glänzt derzeit ...
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    Lafayet, der gelöschte
    10.11.2022 13:25registriert Juli 2022
    Man kann auf den Satelliten-Aufnahmen die russischen Boote sehen, die sich auf dem Fluss verstecken und die nur darauf warten, bis die Ukrainer zurückkehren um ihnen in den Rücken zu fallen.

    Das ist Russland.
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