Rund um die südukrainische Stadt Cherson haben sich ukrainische Truppen und russische Besatzer am Samstag schwere Kämpfe geliefert. Nach russischer Darstellung gerieten verschiedene Frontabschnitte in der Region unter schwersten Artilleriebeschuss. An einigen Stellen seien grössere Truppenverlegungen und Bewegungen ukrainischer Panzerverbände registriert worden. «Offenbar bereiten die ukrainischen Truppen einen neuen Angriff vor», spekulierte der von Russland eingesetzte Vize-Verwaltungschef der besetzten Region, Kirill Stremoussow.
Auch das ukrainische Militär hatte zuvor von schweren Kämpfen und Artillerieduellen in der Umgebung von Cherson berichtet. Die ukrainische Führung will die Region im Süden des Landes nach ersten Erfolgen noch komplett befreien.
Cherson ist die bislang einzige Gebietshauptstadt, über die Kiew nach dem russischen Einmarsch schon Ende März die Kontrolle verloren hatte. Die Stadt hat aber nicht nur eine symbolische Bedeutung, sondern auch eine strategische. Denn noch hat Russland östlich des Dnjepr hier Kontrolle, auch in einigen Dörfern. Das Problem für Moskau: Viele Brücken über den Fluss sind zerstört, die russischen Truppen können schweres Gerät, wenn überhaupt nur mit grossem Aufwand, aus der Region zurückholen.
💪🇺🇦 Armed Forces of Ukraine are comingSomewhere in the #Kherson region. pic.twitter.com/ZaXEgQPzxV— NEXTA (@nexta_tv) November 5, 2022
Und: Ist Cherson erst einmal wieder in ukrainischer Hand, wird es schwerer, erneut über den Fluss Angriffe zu starten. Denn hatten die Russen lange Zeit die Oberhand bei der Artillerie, kommen jetzt die Himars-Raketenwerfer aus dem Westen zum Einsatz. Und diese können sehr präzise russische Stellungen und Einrichtungen treffen.
Auch wenn unklar ist, wie viele russische Soldaten sich noch in der Region befinden, einen Niederlage würde nicht nur grosse personelle Verluste bedeuten, sondern auch von militärischem Gerät. Schon jetzt schlägt die Ukraine mit eroberten Waffen zurück.
Trotz der Meldungen schwerer Kämpfe ist die Situation in Cherson aber schwer einzuschätzen, und dazu gehören auch Meldungen, die offenbar Teil eines Propagandakriegs sind. So wurden Bilder der Stadtverwaltung in sozialen Medien gestreut, auf denen die russische Flagge nicht mehr weht. Wladimir Putin kündigte eine Evakuierung der Bevölkerung an.
Es gab auch Hinweise auf den Rückzug von Truppenteilen. Das könnte aber genauso eine Finte sein. Denn noch haben die russischen Besetzer Durchhaltewillen und auch Ausrüstung. «Ihre Versorgungswege sind zwar stark ramponiert, aber offenbar nicht abgeschnitten: Er sei überrascht gewesen von der Feuerkraft, über die die Russen noch immer verfügen, sagt ein ukrainischer Späher nach jüngsten Gefechten», schreibt der «Spiegel» über die Lage in der Region.
An einen heimlichen Rückzug der Russen aus der strategisch wichtigen Stadt will die ukrainische Führung nicht glauben. «Die Russen haben ihre besten Truppen in Stellung gebracht, niemand ist abgezogen», sagte jetzt der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj der italienischen Zeitung «Corriere della Sera».
Das amerikanische «Institute for the study of war», das täglich die Lage im Krieg analysiert, sieht erhebliche Probleme auf das russische Militär zukommen. «Russische Streitkräfte schaffen Bedingungen für einen kontrollierten Rückzug aus dem nordwestlichen Gebiet Cherson, um wahrscheinlich eine ungeordnete Flucht vom rechten (westlichen) Ufer des Flusses Dnipro zu vermeiden. Die russischen Streitkräfte werden wahrscheinlich einen Rückzug im Kampf durchführen müssen, um zu verhindern, dass die ukrainischen Streitkräfte sie auf das linke (östliche) Ufer verfolgen.»
Russland scheint offenbar den eigenen Schaden minimieren zu wollen, und gleichzeitig der Armee Ukraine noch viele Verluste zuzufügen, bevor man abzieht. Ob dabei auch wichtige Einrichtungen zerstört werden, bleibt abzuwarten. So gab es Gerüchte um das Dnipro-Stauwerk in Nowa Kachowka, etwa 80 Kilometer flussaufwärts des Stadtzentrums von Cherson. Der Kreml warf Kiew zuletzt vor, den Damm sprengen zu wollen – und löste damit die Furcht aus, dass Russland eben das plant.
Am 18. Oktober hatten die Besatzer angesichts massiven Beschusses von ukrainischer Seite zur Evakuierung der Stadt aufgerufen. Nach offiziellen Angaben sollen bereits 80'000 Menschen das Gebiet Cherson verlassen haben. Die Ukraine spricht von Verschleppung der Menschen.
In den umkämpften Teilen der Region sollen weiter 170'000 Menschen ausharren, die bisher nicht fliehen wollten oder konnten. Nach nicht überprüfbaren Angaben des russischen Verteidigungsministeriums werden weiter rund 5'000 Menschen täglich über den Fluss Dnipro in Booten und über eine Pontonbrücke Sicherheit gebracht. ((t-online,dpa,wan ))
Verwendete Quellen:
Wie viel verbrannte Erde werden sie hinterlassen beim Abzug? Wie lange wird gekämpft um die Niederlage?