Gibt es neben chemischen in Putins Arsenal auch biologische Waffen? Die Abschätzung des russischen Chemiewaffenlagers ist schon schwierig. «Noch undurchsichtiger ist, wie das russische Potenzial und das Programm für biologische Waffen aussehen», erklärt Stephen Herzog, Experte für Massenvernichtungswaffen am Center for Security Studies (CSS) an der ETH Zürich.
Zu denken geben dem ETH-Militärexperten, die von Russland immer wieder gemachten Aussagen zu einem Biowaffenprogramm, das die Ukraine führe. Für diese Anschuldigung gibt es keinerlei Beweise, wie die Geheimdienste festhalten. Die fraglichen ukrainischen Laboratorien seien der internationalen Gemeinschaft zugänglich und würden akademischen und kommerziellen Zwecken dienen, erklärt Herzog.
>> Alle aktuellen Entwicklungen zum Ukraine-Krieg im Liveticker
Er befürchtet hinter diesen falschen Anschuldigungen eine Strategie der Russen und spricht von einer «Spiegelung». Das bedeutet, dass die Russen selbst ihre zivilen Biolabore für militärische Zwecke nutzen und dabei vielleicht tatsächlich denken, die Ukrainer könnten das auch tun. Würden die Russen dann tatsächlich biologische Waffen einsetzen, würden sie die Schuld der ukrainischen Regierung in die Schuhe schieben. Obwohl das völlig absurd wäre.
Diese Waffen sind 1975 in der Biowaffen-Konvention (Biological Weapons Convention) verboten worden. Biologische Waffen bestehen aus lebenden Organismen, aus biologischen Giften oder Krankheitserregern. Mit diesen werden die Opfer vergiftet oder infiziert, um die Krankheiten zu verbreiten. Wird bei den chemischen Kampfstoffen vor allem Nervengas eingesetzt, wird bei der «bakteriellen Kriegsführung» mit Viren und Bakterien angegriffen. «Manchmal können auch Pilze und Insekten eingesetzt werden», sagt Herzog.
Die Biowaffen-Konvention verbietet Biowaffen zwar, schliesst aber keine Kontrolle durch Inspektoren ein. Dieser Verzicht habe damit zu tun, dass die inspizierten Länder für Inspektionen Zugang zu pharmazeutischen Einrichtungen geben müssten. Weil sich einige Länder vor möglicher Wirtschaftsspionage fürchteten, wurde im Vertrag auf Inspektionen verzichtet. «Dieses Schlupfloch bei der Überprüfung ermöglicht es einigen Ländern jedoch, die Vereinbarung zu verletzen und Biowaffen zu führen», sagt Herzog.
Die Sowjetunion führte ein Biowaffenprogramm - und nach deren Zusammenbruch erklärte der russische Präsident Boris Jelzin, dass dieses Programm immer noch existiere und nie abgeschaltet worden sei. Aus diesem Grund unterzeichneten die USA, Grossbritannien und Russland im Jahr 1992 ein Abkommen, um alle verbliebenen Anlagen zu schliessen und sich gegenseitig Zugang zu Inspektionen zu gewähren. Dabei wurden 49 sowjetische Biowaffenanlagen stillgelegt, die gegen internationales Recht verstiessen.
Verblieben sind die russischen pharmazeutischen Anlagen. «Und da wurde es mit der Kontrolle kompliziert», sagt Herzog. Zwar durften russische Inspektoren die amerikanischen und britischen Pharmaeinrichtungen besuchen, um sich zu vergewissern, dass es sich um zivile Anlagen handelte. «Als aber die Zeit für die Inspektionen in Russland gekommen war, beendete Moskau die Zusammenarbeit», sagt der Waffenexperte der ETH. «Viele Geheimdienste der Nato-Staaten gehen deshalb heute davon aus, dass Russland immer noch ein Programm zur offensiven biologischen Kriegsführung unterhält.» Was ein herber Verstoss gegen die Vereinbarung über biologischen Waffen wäre.
Die westlichen Geheimdienste tappen im Dunkeln. Welche Biowaffen die Russen einsetzen würden, ist wegen der mangelnden internationalen Transparenz schwierig abzuschätzen. Zum sowjetischen Biowaffenprogramm, das 1920 begonnen wurde, gehörten Anthrax, Botulismus, Pocken, Pest und andere Erreger. Während dem Kalten Krieg entwickelten die Sowjets auch noch waffenfähiges Ebola und Maul- und Klauenseuche. Berichtet wurde, dass die Sowjetunion 1990 Pockenwaffen an den irakischen Diktator Saddam Hussein geliefert hat. «Und 1992 enthüllte Jelzin, dass bei einem Milzbrandunfall in einem illegalen sowjetischen Biowaffenlabor im Jahr 1979 64 Menschen ums Leben gekommen waren», sagt Herzog.
«1998 erklärte einer der ehemaligen leitenden Wissenschafter für biologische Kriegsführung der UdSSR, dass die Sowjets zahllose Stränge antibiotikaresistenter Krankheitserreger perfektioniert hätten und über das ausgeklügeltste Programm zur biologischen Kriegsführung der Welt verfügten», sagt der ETH-Experte. Dieses technische Wissen sei mit Sicherheit auch noch in Putins Russland vorhanden. Und die internationale Gemeinschaft habe keine Möglichkeit, die russischen Laboratorien im Land zu kontrollieren.
Strategisch sind Biowaffen keine wirksamen Kriegsmittel. Ihr Zweck besteht darin, die Truppen des Gegners krank zu machen. Rachsüchtige Diktatoren können sie zudem zur Bestrafung der Zivilbevölkerung einsetzen oder, falls sie sich nicht ergeben will, damit deren Widerstand schwächen.
Wegen des geringen militärischen Nutzens sagt Herzog: «Ich halte es für unwahrscheinlich, dass sie vom russischen Militär eingesetzt werden. Bomben und Raketen eignen sich nicht für den Einsatz dieser Waffen, da die grosse Hitze der Explosionen lebende Krankheitserreger töten kann.» Allerdings sei bekannt, dass es Russland technisch beherrsche, Milzbrand mit Aerosolen zu verteilen. Und in der Lage sei, den Erreger mit einem einzigen Flugzeug über Tausende von Quadratkilometern zu verbreiten.
Putin brauche den Einsatz von Biowaffen nicht, weil das russische Militär auch ohne in der Lage sei, Ziele mit Bomben, Raketen, Panzern und Artillerie zu zerstören. Würde sie Putin trotzdem gegen Zivilisten einsetzen, würde er ein solches Kriegsverbrechen mit Bestimmtheit leugnen, wie Herzog erklärt.
«Die Welt ist bereits Zeuge einer qualitativen Verschärfung der Arten von Waffen, die Russland gegen das ukrainische Militär und, was noch erschreckender ist, gegen die Zivilbevölkerung einzusetzen bereit ist», sagt der ETH-Militärexperte. «Dazu gehören Angriffe auf Schulen, Krankenhäuser, Waisenhäuser und Bahnhöfe, in die Familien vor dem Konflikt fliehen wollen. Die Angriffe umfassen den potenziellen Einsatz von Horrorwaffen wie Vakuumbomben und chemischen Waffen sowie den bestätigten Einsatz von Hyperschallraketen, Streubomben und weisser Phosphormunition.» (aargauerzeitung.ch)