Jewgeni Prigoschin wird zweifellos als eine der bemerkenswertesten Figuren des russischen Aggressionskrieges gegen die Ukraine in die Geschichte eingehen. Dies kann man ohne eine Spur von Sympathie gegenüber seiner Person feststellen.
Die zahlreichen Verbrechen, mit denen er seinen bisherigen Weg in der Ukraine und seinen Aufstieg gepflastert hat, lassen diese Landsknechtfigur menschlich im denkbar schlechtesten Licht erscheinen. Dennoch hat es der 62-Jährige bisher als einziger geschafft, das System Putin in Russland an den Rand des Abgrunds zu bringen. Selbst Kremlkritiker Michail Chodorkowski setzte während des Putschversuchs am Samstag auf «den Teufel» Prigoschin, um Putin zu stürzen.
Eine aussergewöhnliche Verbindung von Ruchlosigkeit, krimineller Energie und Geschäftssinn sind die Markenzeichen, die den schwerreichen Chef der Wagner-Söldnerarmee bisher ausgezeichnet haben. Sie sind es auch, die ihn von einem verurteilten Raubmörder und «Hotdog-Verkäufer», wie ihn angelsächsische Medien dieser Tage abschätzig bezeichnen, in den Dunstkreis von Diktator Putin katapultiert haben.
Natürlich müssen bei diesem Meister der Selbstinszenierung sämtliche biografischen Daten mit Vorsicht genossen werden. Vieles, was als Lebensfakt kolportiert wird, könnten genauso Bausteine einer selbst gestrickten Legende sein.
Anhand von Gerichtsakten als gesichert gilt jedoch, dass Prigoschin 1980 als 19-Jähriger wegen Raubmordes in Leningrad an einer Hausfrau zu 13 Jahren Straflager verurteilt wurde und 1990 mit der Entlassung aus seiner Haftstrafe sich mitten in den letzten Zuckungen der Sowjetunion wiederfand - was für ihn mehr ungeahnte Möglichkeiten als Verzweiflung und Zukunftsängste bedeutete.
Die 1990er-Jahre nutzte er dazu, im dem neu entdeckten Kapitalismus frönenden St. Petersburg eine eigene Restaurantkette aufzubauen. Im Jahre 2001 kam es dann in seinem Lokal zur schicksalhaften Begegnung mit dem frisch gekürten Präsidenten Wladimir Putin. Prigoschin umsorgte den prominenten Gast persönlich, und dieser fand Gefallen am radikal-redseligen Gastronomen.
Auch hier scheint Prigoschin sofort gewittert zu haben, welche Chancen ihm diese unverhoffte Begegnung bescherte. Putin bedankte sich mit offiziellen Verpflegungsaufträgen für Armee und Schulen. Prigoschin revanchierte sich mit üppigen Geburtstagscaterings und wohl auch sonstigen Gefälligkeiten.
Die Bezeichnung «Putins Koch» stammt aus diesen Jahren, und die russische Oligarchenkaste schien dem als eine Art Hofnarren taxierten Prigoschin keine besondere Bedeutung zuzumessen.
So weit, so harmlos und üblich für russische Verhältnisse. Eine dramatische Wende bringen dann die 2010er-Jahre, in dem sich mehr und mehr seine kriminellen Neigungen durchsetzen. Es ist nicht ganz gesichert, ob und wie Prigoschin um 2012 herum die Wagner-Söldnerarmee gegründet hat, deren Existenz und Verbindungen dazu er noch bis 2019 abstritt, und welche Rolle der Rechtsextreme Dmitri Utkin dabei spielte.
Tatsache ist, dass «Putins Koch» dem Kremlherrscher nach der Besetzung der Krim 2014 fortan jene Kämpfer zur Verfügung stellte, welche Russland für seine illegalen Intervention in der Ukraine, in Syrien und Afrika benötigte. Auch die Gründung der berüchtigten Petersburger Troll-Fabrik, die 2016 Einfluss auf Donald Trumps Wahl zum US-Präsidenten nahm, geht in diese Zeit zurück.
Der militärische Laie wusste mit Wagner wiederum die für ihn besten Geschäfte herauszuholen. Söldneraufträge liess er sich beispielsweise in der Zentralafrikanischen Republik mit Bergbaulizenzen und Schürfrechten für Gold und Diamanten entschädigen – die eigentliche Quelle seines Reichtums.
Nach Russlands Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 begann der dritte und international aufsehenerregendste Abschnitt in der Karriere des Jewgeni Prigoschin. Die brutale Exekution von Deserteuren mit dem Vorschlaghammer; die Anwerbung von Kriminellen in russischen Straflagern; das bedenkenlose Opfern derselben in sinnlosen Angriffswellen; die immer unverschämteren Provokationen gegenüber der russischen Militärführung; schliesslich der seltsamste Eintages-Aufstand der Geschichte.
Zumindest etwas hat der lange als Emporkömmling belächelte und vermutlich selbst von Putin nicht ganz für voll genommene Söldnerführer geschafft: Der einstige Gefängnis-Knacki und Schnellgastronom hat Russlands Elite und dem korrupten Kreml-System das Fürchten gelehrt. (aargauerzeitung.ch)