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Ukraine

Reportage: Die ukrainischen Verteidiger an der Südfront

Die abenteuerlichen Methoden der ukrainischen Territorialverteidiger an der Südfront

Die ukrainische Offensive kommt voran, eine Entscheidung ist aber noch nicht gefallen. Leistungsfähigere Drohnen machen den Soldaten das Leben an der Front immer schwerer.
10.09.2023, 19:2811.09.2023, 06:38
Kurt Pelda, Oblast Saporischschja / ch media
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Mit hoher Geschwindigkeit preschen Ninjas Soldaten durchs Gelände, um das Risiko von Drohnenangriffen zu minimieren.
Mit hoher Geschwindigkeit preschen Ninjas Soldaten durchs Gelände, um das Risiko von Drohnenangriffen zu minimieren.Bild: Stefan Graf

Am Horizont zucken Blitze durch den Nachthimmel. Manchmal wird es über mehrere Sekunden taghell. Mit Verzögerung kommt das Donnergrollen bis zu dem Haus, in dem Ninja und seine Soldaten eine provisorische Unterkunft gefunden haben. Auch wenn es wirkt wie ein Gewitter und sich auch so anhört: Es ist nichts anderes als heftiges Artilleriefeuer in der Ferne. Die nächsten russischen Stellungen sind keine sieben Kilometer entfernt.

Der Mann mit dem Kriegsnamen «Ninja» wurde vor kurzem zum Zugführer ausgebildet. Hinter der Unterkunft gart Kola, ein massiger Chauffeur mit dem Kriegsnamen «Bro», Fleisch auf einem Holzkohlegrill. Wären da nicht die Explosionen in der Ferne, könnte man an ein Ferienlager denken.

Hohe ukrainische Verluste

Die Brigade, zu der Ninjas Einheit gehört, trägt dazu bei, eine Flanke des grossen ukrainischen Vorstosses bei Robotine zu decken. Seit Anfang Juni, haben die Ukrainer hier unter grossen Verlusten eine tiefe Bresche in die mit Minenfeldern, Schützengräben und Bunkern befestigte russische Front geschlagen.

Das kleine Dorf Robotine, etwa 70 Kilometer südöstlich von Saporischschja, haben die Ukrainer dabei praktisch dem Erdboden gleich gemacht. Die Russen mussten zugeben, dass sie sich zurückgezogen haben.

Der Richtschütze eines amerikanischen Bradley-Schützenpanzers, der an der Eroberung von Robotine teilnahm, mit Munition seiner Bordkanone.
Der Richtschütze eines amerikanischen Bradley-Schützenpanzers, der an der Eroberung von Robotine teilnahm, mit Munition seiner Bordkanone.Bild: NurPhoto/Getty

Die Bresche ist nun schätzungsweise 10 Kilometer tief und bis zu 12 Kilometer breit. Weil die Ukrainer für diesen bescheidenen Geländegewinn etwa drei Monate brauchten, ist in westlichen Medien häufig vom Scheitern der Gegenoffensive die Rede. Dabei geht aber vergessen, dass Kriege nicht linear verlaufen.

Es gibt Phasen des scheinbaren Stillstands und dann wieder Perioden, in denen sich die Ereignisse überschlagen. Bei ihrem Angriff auf Robotine machten die Ukrainer im Juni noch eine Menge Fehler und verloren viele Kampf- und Schützenpanzer in den Minenfeldern und durch Artilleriebeschuss.

Einige der Brigaden, die mit relativ modernem westlichem Gerät ausgerüstet waren, hatten noch wenig Kriegserfahrung - im Gegensatz zu vielen anderen Einheiten, die noch mit alten sowjetischen Panzern und Geschützen ausgestattet sind.

Nach den ersten Rückschlägen änderte Kiew seine Taktik. Im Schutz der Dunkelheit suchten Sappeure die russischen Minen und gruben sich so Schneisen durch die Minenfelder. Nach Vorbereitung durch schweres Artilleriefeuer stürmten dann kleine Gruppen von Infanteristen die russischen Stellungen.

Kopfschütteln westlicher Generäle

In westlichen Militärkreisen löste dieses Vorgehen zum Teil Kopfschütteln aus. Wer sich allerdings in Frontnähe aufhält, versteht sehr schnell, warum den Ukrainern nicht viel anderes übrig blieb: Fahrzeuge ziehen im Sommer Staubfahnen hinter sich her und werden von Aufklärungsdrohnen schnell entdeckt.

Jede Konzentration von Panzern, Geschützen oder Soldaten wird sofort mit Granaten und Raketen eingedeckt, sodass nur kleine Einheiten eine Chance haben, unentdeckt zu bleiben, bis sie in die russischen Gräben und Bunker eindringen.

Warum ist ein Dorf wie Robotine, das vor dem Krieg vielleicht 500 bis 600 Einwohner hatte, so wichtig? Der Weiler liegt am Rand eines sanften Hügelzugs. Diese Anhöhen ziehen sich wie ein Sperrriegel von West nach Ost, parallel zur Küste des Asowschen Meers, dem Ziel der ukrainischen Gegenoffensive. Auf diesen Hügeln haben die Russen massive Befestigungsanlagen angelegt.

Schaffen es die Ukrainer über die Hügel, gibt es in der Tiefebene weiter südlich ausser Wasserläufen keine natürlichen Hindernisse mehr. Erste Zwischenetappe im Falle eines erfolgreichen weiteren Vordringens wäre die Stadt Tokmak, rund 20 Kilometer südwestlich der Bresche in der russischen Front.

Tokmak ist das entscheidende Logistikzentrum der Russen in dieser Region. Gelänge es den Ukrainern, die dortige Eisenbahnlinie zu kappen, würde sich die Versorgungslage der russischen Truppen rasch verschlechtern.

Eine Bombe durchschlug das Hausdach

In der relativen Sicherheit von Ninjas Grillabend gehen solche Überlegungen schnell vergessen. Doch auch hier droht immer Gefahr von Drohnen und Raketeneinschlägen. Ninjas Vorgesetzter wohnte bis vor kurzem nur wenige hundert Meter entfernt in einem verlassenen Bauernhaus.

Ukrainische Landwirte fahren häufig Traktoren und alte sowjetische Lada-Autos, aber keine Pick-ups und Geländewagen. Schon alleine anhand der vor einem Haus geparkten Fahrzeuge kann ein russischer Drohnenpilot erkennen, ob es sich bei den Bewohnern um Militärs handelt.

Eines Tags drehte eine russische Drohne Runden um den Kommandoposten und warf eine kleine Bombe auf das Dach. Das Haus begann zu brennen. Nur mit Glück kam der Kommandeur unverletzt davon. Der durchtrainierte 50-Jährige mit dem Kriegsnamen «Navarra» ist im Zivilleben Mitglied einer Motorrad-Gang. Nach dem Zwischenfall mit der Drohne musste er umziehen. Verlassene Häuser gibt es genug in der Gegend, denn viele Bauern sind geflüchtet.

Navarras Bataillon gehört zu einer Brigade der Territorialverteidigung. Solche Einheiten sind meist schlechter ausgerüstet als die in Nato-Staaten trainierten mechanisierten Kampfbrigaden der Armee. Viele Soldaten der Territorialverteidigung bringen deshalb ihre Privatfahrzeuge mit, denn ohne diese müssten sie sich zu Fuss bewegen.

Die Augen suchen den Himmel ab

Damit schlecht ausgerüstete Einheiten ihre Feuerkraft stärken können, braucht es Kreativität. In einer alten, teilweise zerstörten Fabrikhalle rund 20 Kilometer hinter der Front, haben Navarras Leute deshalb eine grosse Werkstatt eingerichtet.

Navarras Soldaten in der Fabrik, in der Pick-ups umgebaut und bewaffnet werden.
Navarras Soldaten in der Fabrik, in der Pick-ups umgebaut und bewaffnet werden.Bild: Stefan Graf

Auf dem Weg in die Fabrik sucht Kola, der Fahrer, den Himmel ab. Die Russen verwenden immer häufiger Kamikaze-Drohnen, deren Piloten auch Jagd auf Fahrzeuge machen - selbst weit hinter der Front. «Es hat fast immer Drohnen über uns», erzählt Ninja, «man muss wirklich vorsichtig sein. Zum Glück werden wir oft über Funk gewarnt, wenn Flugobjekte gesichtet werden.»

In einem ungepanzerten Auto, wie wir es verwenden, würde ein Treffer einer russischen Lancet-Drohne den wahrscheinlichen Tod sämtlicher Insassen bedeuten.

Chauffeur Kola ist immer auf der Hut vor Kamikaze-Drohnen.
Chauffeur Kola ist immer auf der Hut vor Kamikaze-Drohnen.Bild: Stefan Graf

In der Fabrik sind mehrere Mechaniker damit beschäftigt, Raketenwerfer auf Ladeflächen von Pick-ups anzubringen. Mit diesen abenteuerlichen Kriegsmaschinen lässt Ninja dann die Russen beschiessen. Die Pick-ups sind schnell und geländegängig, sie tauchen rasch auf, feuern ihre Raketen ab und verschwinden wieder in gut getarnten Unterständen oder Garagen - bevor feindliche Drohnen auftauchen oder die russische Artillerie das Feuer erwidern kann.

Grössere Reichweite westlicher Kanonen

An der Front von Saporischschja fällt auf, dass die Ukrainer inzwischen oft mehr Granaten und Raketen abfeuern als die Russen. Offiziere erklären dieses Phänomen damit, dass es ihnen gelungen sei, eine grosse Zahl russischer Geschütze, Panzerhaubitzen und Mehrfachraketenwerfer zu zerstören.

Der Grund dafür sei nicht nur eine erfolgreiche Drohnenaufklärung, sondern auch westliche Radargeräte, mit denen die Ukrainer die Geschossbahnen der russischen Artillerie vermessen und so den genauen Abschussort ermitteln.

Umgekehrt hat die ukrainische Luftwaffe offenbar viele russische Radarschirme mit amerikanischen Anti-Radar-Lenkwaffen zerstört und damit die russische Artillerie quasi geblendet. Wichtig sei auch, dass die westlichen Geschütze insgesamt präziser und vor allem weitreichender seien als die russischen.

Ein paar Tage, nachdem wir Navarras Bataillon verlassen haben, schickt uns Ninja eine Kurznachricht: Das Haus, in dem sein Zug untergebracht war, sei um ein Haar von russischen Lenkwaffen und einer Fliegerbombe getroffen worden. Beim Angriff habe es keine Verletzten gegeben. Dennoch beschloss Ninja, seine Soldaten an einem anderen Ort in Sicherheit zu bringen. Offenbar hatte zuvor eine Drohne die Unterkunft entdeckt. (aargauerzeitung.ch)

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Walerij Saluschnij – Oberbefehlshaber der Streitkräfte der Ukraine
quelle: www.imago-images.de / imago images
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20 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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MartinZH
10.09.2023 21:28registriert Mai 2019
Die zahlreichen Verluste auf ukrain. Seite könnten um einiges geringer sein, wenn die UA über mehr Luftmittel verfügen würde:

Das Gefecht der verbundenen Waffen, so wie es den (UA-)Soldaten (u.a. auch im Ausland) vermittelt wurde/wird, funktioniert nur, wenn auch die dritte Dimension entsprechend ausreichend vorhanden und gewährleistet ist – und Drohnen ersetzen diesbzügl. nunmal keine Kampfjets.

Umso mehr kann man die Fortschritte der UA nur bewundern, wie sie mit grösster Kampfmoral, List und Sorgfalt den Feind bezwingen.

Die ATACMS und F-16 sind unterwegs – einfach wesentlich zu spät. 😔
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Bärn1931
10.09.2023 20:41registriert Oktober 2020
Schweizer Vignette an der Scheibe beim dritten Bild... Wurden da etwa Puchs geliefert?
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das dödele
10.09.2023 22:00registriert Juli 2022
Die Beiträge von Journalist Pelda empfinde ich als authentisch und engagiert; Der plaudert nicht aus dem militärischen Nähkästchen sondern aus exponierter Frontnähe.
Die Beiträge von Pelda überzeugen mich durch ihre (manchmal schwer erträgliche) Aufrichtigkeit: Pelda schreibt nicht das, was ich dringlichst lesen möchte: Erfolge der Ukrainer; Pelda schreibt von dem was wirklich ist: Erfolge und Verluste der Ukrainer.
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