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Die grösste Schlacht aller Zeiten und was die Ukraine davon lernen kann

Grösste Schlacht aller Zeiten: Was die Ukraine vom Unternehmen Zitadelle lernen kann

07.09.2023, 20:0708.09.2023, 06:34
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Die ukrainischen Rückeroberungsbemühungen werden nicht nur gelobt. Kritiker monieren primär die Geschwindigkeit. Dies alles dauere zu langsam, heisst es – auch amerikanische Experten stimmen teilweise in diesen Chor ein.

Gereizt reagierte darauf kürzlich der Oberbefehlshaber der Ukraine, Walerij Saluschnij: «Das ist kein Kampf gegen Aufständische. Das ist die Schlacht um Kursk», verwies er auf das historische Ereignis von 1943. Damals versuchte die Wehrmacht in einem gross angelegten Angriff, dem Unternehmen «Zitadelle», die massierte Defensive der Roten Armee um Kursk zu eliminieren.

Peter Mertens erforscht an der Militärakademie (MILAK) der ETH Zürich unter anderem historische und aktuelle Fragen der Taktik und der «Operativen Führung».
Peter Mertens erforscht an der Militärakademie (MILAK) der ETH Zürich unter anderem historische und aktuelle Fragen der Taktik und der «Operativen Führung».bild: milak

In der Folge kam es zur grössten Panzer- und Landschlacht der Geschichte. Über 700’000 Wehrmachtssoldaten und ca. 2900 Panzer trafen auf zwei Millionen Soldaten und 5000 Panzer der Roten Armee. Trotz massiven Verlusten gelang es der Sowjetunion, die Angreifer zurückzuschlagen.

Inwiefern hält der Vergleich mit der aktuellen Situation in der Ukraine stand? Wir haben den Militärhistoriker und Taktikexperte Peter Mertens gebeten, die Lage einzuschätzen.

Herr Mertens, wir haben 2023 – was soll der Vergleich mit 1943?
Peter Mertens:
Saluschnij machte damit deutlich, dass die aktuelle Gegenoffensive kaum etwas mit den Operationen gemeinsam hat, welche die Amerikaner im Irak oder in Afghanistan durchgeführt haben. Sondern vor ähnlichen Herausforderungen steht, wie sie sich während der grössten Schlacht des Zweiten Weltkriegs stellten. Die vor 80 Jahren, vom 5. bis 13. Juli 1943, in Südrussland zwischen sowjetischen und deutschen Truppen ausgefochtene Schlacht im Kursker Frontbogen ist in der Tat ein Schlüsselbeispiel, das verstehen hilft, warum die aktuelle ukrainische Gegenoffensive so zäh verläuft und die Rückeroberung grösserer Gebiete auf sich warten lässt.

Ein «Tiger» der deutschen Wehrmacht in der Schlacht um Kursk.
Ein «Tiger» der deutschen Wehrmacht in der Schlacht um Kursk.bild: wikimedia.ch

Was geschah damals?
1943 hatte die Rote Armee wie die heutige russische Armee vor dem gegnerischen Angriff monatelang Zeit, tief gestaffelt mehrere Verteidigungslinien auszubauen, deren Minengürtel bis zu 3200 Minen pro Kilometer umfassten. Anders als die Ukrainer im Juni 2023 durchbrachen die Truppen der deutschen Wehrmacht 1943 die beiden ersten, besonders stark ausgebauten Stellungssysteme indes in nur zwei Tagen. Die nördliche Stossgruppe blieb dann allerdings im massiven Feuer der sowjetischen Artillerie liegen. Die südliche Angriffsgruppe hingegen kämpfte sich auch noch durch den dritten Verteidigungsgürtel hindurch, wehrte danach den Gegenangriff von zwei sowjetischen Armeen ab und setzte zum weiteren Vorstoss in die Tiefe an. Hitler stoppte jedoch jetzt das Unternehmen «Zitadelle», so der Deckname des deutschen Zangenangriffs auf den Frontbogen bei Kursk. Denn die Sowjets hatten an anderen Stellen eigene Grossoffensiven gestartet, denen die Wehrmacht nur durch die Verlegung ihrer kampfstärksten Divisionen begegnen konnte.

Das Unternehmen Zitadelle.
Das Unternehmen Zitadelle. bild: US-army

Die deutschen Truppen brachen damals schnell durch die sowjetischen Verteidigungslinien. Wieso gelingt dies der Ukraine nicht?
Das «Erfolgsrezept» des südlichen deutschen Vorstosses gegen das tiefe Verteidigungssystem der Roten Armee bestand aus einigen Zutaten, die für die heutigen ukrainischen Streitkräfte teilweise nicht realisierbar, teilweise aber auch nicht akzeptabel sind. Erstens konnten die Deutschen auf engem Raum mechanisierte Verbände mit einer sehr viel höheren Dichte an Panzern konzentrieren, als es den Ukrainern Anfang Juni 2023 möglich war. Zweitens setzten die deutschen Kommandeure ihre Kampfgruppen im Bewusstsein um deren technische und taktische Überlegenheit sprichwörtlich ohne Rücksicht auf eigene Verluste ein. Den Ukrainern wurde zwar in den vorbereitenden Beratungen mit den Amerikanern und Briten ein ähnliches Vorgehen nahegelegt. Angesichts der geringen Zahl moderner westlicher Kampf- und Schützenpanzer zeigten sie sich nach dem herben Rückschlag am 8. Juni 2023 bei Mala Tokmachka jedoch für mehrere Wochen nicht mehr bereit, ihre wertvollen Panzer aufs Spiel zu setzen und verlegten sich – mit Erfolg – auf das zeitaufwändige Vorgehen mit kleinen Stosstrupps. Eingedenk der hohen Panzerverluste, welche die Wehrmacht wegen der geringeren Produktionszahlen viel schlechter wegstecken konnte als die Sowjets ihre noch weitaus höheren Totalausfälle, wohl die klügere Entscheidung.

Gibt es weitere Gründe, weshalb die Ukraine nicht so schnell vorwärtskommt, wie viele erhofften?
Den Ukrainern fehlt wie fast allen heutigen westlichen Armeen ein Waffensystem analog den Sturmgeschützen, Sturmhaubitzen und Sturmpanzern der Wehrmacht. Diese turmlosen Panzerfahrzeuge dienten der direkten Unterstützung der Infanterie (z. B. gegen Befestigungen und Stellungssysteme) und waren für diese Rolle besser geeignet als Kampf- oder Schützenpanzer. Mittlerweile hat zumindest die US Army diese Fähigkeitslücke für sich erkannt und beschafft mit dem M10 «Booker» eine moderne «assault gun».

Zweitens gab es im Zweiten Weltkrieg noch keine fernverlegbaren Minen, die sich mit der Artillerie über grosse Distanz verschiessen lassen und mit deren Hilfe die durch die ukrainischen Angreifer geschaffenen Minengassen schnell wieder geschlossen werden können. Das Gleiche gilt für «intelligente» Artilleriemunition und den Einsatz von Aufklärungs- und Kampfdrohnen.

Drittens verfügen die Ukrainer heute im Gegensatz zu den beiden Wehrmachtsstosskeilen bei Kursk über eine ausreichende Menge infanteristischer Kräfte, um das zurückgewonnene Gebiet besetzt halten zu können, die Flanken zu sichern und den Kampf auch im bedeckten, gekammerten oder überbauten Gelände uneingeschränkt zu führen.

Deutsches Sturmgeschütz fährt in der Schlacht bei Kursk an zwei kampfunfähigen T-34 vorbei.
Deutsches Sturmgeschütz in der Schlacht bei Kursk. Im Vordergrund die Wracks zweier sowjetischer T-34. Bild: gemeinfrei

Man liest immer wieder, dass den Ukrainern vor allem die Minenfelder zu schaffen machen. Die Wehrmacht überwand diese 1943 ziemlich schnell.
Die Minenräumkonzepte, welche die Deutschen bei Kursk und in modernisierter Form die von den USA angeführten Koalitionstruppen im Golfkrieg 1991 erfolgreich anwandten, funktionierten bei den ukrainischen Vorstössen wiederholt nicht. Denn die Russen machen nicht die gleichen Fehler wie die Sowjets 1943 oder die Iraker 1991 und verteidigen zudem ihre klug angelegten Minengürtel und Grabensysteme sehr aggressiv und elastisch.

Schema einer Verteidigungsposition mit Minenfeld. (Quelle: Bundeswehr.de mit Erläuterungen von P. Mertens) ① Angriffsrichtung der Ukrainer ② russische Stellungen ③ vorgeplante Zielräume der russischen ...
Schema einer Verteidigungsposition mit Minenfeld. (Quelle: Bundeswehr.de mit Erläuterungen von P. Mertens) ① Angriffsrichtung der Ukrainer ② russische Stellungen ③ vorgeplante Zielräume der russischen Artillerie ④ Minensperren ⑤ Panzerabwehrlenkwaffe ⑥ Panzerabwehrverlegemine ⑦ Schützenabwehrmine ⑧ Panzerabwehrrichtmine ⑨ Drohnen oder andere Luftaufklärungsmittel ⑩ Loitering Munition

Übrigens trifft auch die verschiedentlich in den Medien zu findende Behauptung nicht zu, man könne mit Kampfflugzeugen Passagen durch Minenfelder freibomben. Einschlägige Untersuchungen aus dem Golfkrieg 1991, während dessen Verlauf systematisch Minenfelder mit Jagdbombern und schweren Bombern bekämpft wurden, zeigen die geringe Effizienz solcher Einsätze.

Sie sprechen die Luftwaffe an. Diejenige der Ukraine ist (noch) praktisch inexistent.
Der deutschen Luftwaffe war es 1943 trotz zahlenmässiger Unterlegenheit aufgrund sowjetischer Führungsfehler möglich, den eigenen Bodentruppen zu Angriffsbeginn in entscheidendem Masse Luftunterstützung zu gewähren. Im Unterschied dazu mangelt es den Ukrainern heute bei ihren Vorstössen sowohl an Jagdflugzeugen und bodengestützten Flugabwehrmitteln zum beweglichen Schutz ihrer Panzerverbände als auch an Erdkampfflugzeugen bzw. den im Zweiten Weltkrieg noch unbekannten Kampfhubschraubern.

Welche Fehler beging die Wehrmacht, dass sie trotz schneller Erfolge am Ende geschlagen wurde – und was kann die Ukraine daraus lernen?
Die ukrainische Armee ist bei ihrem Gegenangriff Richtung Süden darauf bedacht, ihre sehr lange Ostflanke (zwischen Donezk und Charkow) sowie den Norden des Landes nicht zu vernachlässigen. Ein zu stürmisches oder zu verlustreiches Vorgehen könnte die Flanken entblössen oder die immer noch begrenzten eigenen Kräfte überstrapazieren. Zudem müssen die Ukrainer einen Teil ihrer mechanisierten Brigaden als mobile Reserven hinter der Front zurückhalten, um rasch auf eine allfällige russische Gegenoffensive aus östlicher Richtung reagieren zu können. Genau ein solcher Gegenangriff der Sowjets war es ja, der wesentlich dazu beitrug, dass 1943 die von General Saluschnij als Referenzobjekt genannte deutsche Offensive bei Kursk scheiterte.

Sind in der heutigen Zeit überraschende Gegenangriffe von so grossem Umfang überhaupt noch möglich?
Im Gegensatz zu den Deutschen, denen vor und während der Kursker Schlacht sowohl die sowjetischen Vorbereitungen für diesen Gegenangriff als auch die enorme Zahl der dafür bereitgestellten Kräfte entgingen, kennen die Ukrainer die Dislozierung der russischen Truppen dank nachrichtendienstlicher Unterstützung aus dem Westen recht genau. Ausserdem sind die Ukrainer bisher nicht darauf verfallen, das militärische Potenzial und das logistische Durchhaltevermögen der russischen Streitkräfte zu unterschätzen.

Zudem unterstreichen zwei andere grosse Schlachten des Zweiten Weltkriegs, in denen sehr breite und tiefe Minenfelder bzw. Sperrsysteme zu überwinden waren, Saluschnijs Einschätzung: Entweder muss man sich für ein äusserst riskantes und somit ständig vor dem Scheitern stehendes Vorgehen entscheiden (Gazala 1942) oder über eine erhebliche Überlegenheit verfügen, die es erlaubt, selbst bei deutlich höheren eigenen (Panzer-)Verlusten den Durchbruch zu erzwingen und danach noch offensiv handlungsfähig zu bleiben (El Alamein 1942).

Brennender deutscher Panzer IV bei El Alamein.
Brennender deutscher Panzer IV bei El Alamein.bild: wikicommons

Nach den Erfolgsmeldungen bei Robotyne wurden bereits Stimmen laut, die den Weg nach Tokmak als «offen» bezeichneten. Wie schätzen Sie die Lage ein?
Fasst man die vergleichenden Beobachtungen zur Schlacht von Kursk und zur heutigen Situation in der Südostukraine zusammen, so ist ein erfolgreicher Durchbruch der ukrainischen Armee zum Asowschen Meer bzw. zum Eingang der Krim, insbesondere die Rückeroberung der südlichen Teile der Bezirke Saporischschja und Cherson, vor dem Beginn der Schlammperiode und wohl auch im kommenden Frühjahr nicht zu erwarten.

Tokmak liegt rund 22 Kilometer von Robotyne entfernt.
Tokmak liegt rund 22 Kilometer von Robotyne entfernt.bild: screenshot deep state map

Militärisch betrachtet ist der aktuelle Erfolg bei Robotyne kein Durchbruch, sondern allein ein Durchstossen der, der eigentlichen ersten Verteidigungslinie vorgelagerten, freilich ungewöhnlich starken Sicherungslinie.

Auf dem weiteren Weg nach Tokmak, anschliessend Richtung Melitopol oder Berdjansk und schliesslich zur Landenge von Perekop (dem Eingang zur Krim) oder nach Mariupol stehen nun mehrere Phasen bevor, in denen sich in zäher Abfolge der Einbruch in die erste Verteidigungslinie, der Kampf durch die Tiefe bis zur nächsten Verteidigungsstellung und dann wieder ein Einbrechen in diesen Verteidigungsraum (und allenfalls ein Eindrehen und Aufrollen dieses Verteidigungsraums) ablösen, bis schliesslich ein Punkt erreicht wird, hinter dem keine nennenswerten Stellungssysteme mehr vorhanden sind. Ab diesem Zeitpunkt kann man von einem Durchbruch sprechen – sofern der Gegner nicht spätestens dort noch Kräfte zur Verfügung hat, die zum Gegenangriff gegen die durchbrechenden Verbände anzusetzen vermögen.

Russische Befestigungsanlagen zwischen Robotyne und Tokmak laut dem OSINT-Projekt Deep State Map.
Russische Befestigungsanlagen zwischen Robotyne und Tokmak laut dem OSINT-Projekt Deep State Map.

Die ukrainische Führung weiss aber, dass genau dies der Fall ist und an ihrer Südfront im Rückraum der gegnerischen Verteidigungslinien noch russische Reserven in Form von mechanisierten und luftmobilen Verbänden zurückgehalten werden, die auch über Kampfhubschrauber verfügen. Ohne eigene Luftüberlegenheit oder zumindest Luftparität wäre ein weit ausholender Vorstoss für die Ukraine folglich mit grossen Risiken verbunden.

Bald wird es wieder Winter. Geht der Ukraine die Zeit aus?
Anders, als es in früheren Kriegen üblich war, dürften die Ukrainer ihre Angriffe wohl auch nach der Schlammperiode bzw. im Winter fortsetzen und Geländegewinne verzeichnen. Die witterungsbedingt vornehmlich von infanteristischen Vorstössen getragenen Kampfhandlungen werden aber, sofern nicht eines der in der Militärgeschichte sehr seltenen «Wunder» geschieht, ein zeitaufwendiges Unterfangen sein und keine operative oder gar strategische Entscheidung herbeiführen. Wenn dadurch der Angriffsschwung wenigstens teilweise aufrechterhalten und die Einbrüche in das Verteidigungssystem der Russen hinreichend in die Tiefe und Breite ausgeweitet werden können, wird dies den Ukrainern allerdings die Möglichkeit eröffnen, die Feuerbasen für ihre weitreichende Rohrartillerie weiter nach vorn zu verlagern. Von dort aus können die auf diese Distanzen ebenso treffsicher wie die MLRS- und HIMARS-Raketenwerfer wirkenden, aber mit der billigeren Munition ausgestatteten und der höheren Kadenz feuernden 155 mm-Geschütze (z. B. Panzerhaubitze 2000) die wichtigen Ost-West-Versorgungslinien der Russen, die nördlich des Asowschen Meers zur Krim und zu den Truppen südlich von Cherson führen, laufend bekämpfen und die ohnehin angespannte und auf zivile Transportunternehmen angewiesene russische Versorgung empfindlich stören.

Das tönt zwar zäh, aber erfolgversprechend.
Unter den aktuellen Umständen braucht es in jedem Fall, wie auch die ukrainische Führung betont, Geduld und Zeit. Zeit ist indes nur dann gegeben, wenn die USA als der mit Abstand wichtigste Unterstützer der Ukraine mindestens auch in den nächsten beiden Jahren massiv zur Seite stehen. Da im nächsten Jahr die US-Wahlen stattfinden und bei einem ungünstigen Wahlausgang die weitere Unterstützung infrage gestellt ist, nicht zuletzt jedoch auch hinsichtlich des Wohls der mit bewundernswerter Tapferkeit und hoher Opferbereitschaft kämpfenden ukrainischen Soldatinnen und Soldaten sowie der Zivilbevölkerung im betroffenen Raum, erscheint es allerdings geboten, wieder stärker auf eine politische Lösung zu setzen. Zu deren erfolgreichem Ausgang können die aktuellen und die in den nächsten Monaten zu erwartenden Geländegewinne durchaus einen wertvollen Beitrag leisten.

Die Ukraine betonte aber immer wieder, sie verhandle nicht über Land und Leute.
Einen wichtigen ersten Schritt zu einer politischen Lösung stellt die Aussage des ukrainischen Präsidenten Selenskij vom 27.8.2023 dar, es sei für die Krim auch eine Verhandlungslösung denkbar. Die Initiierung eines Verhandlungsprozesses wäre umso bedeutender, als sich abzeichnet, dass die Krim allein schon aus militärgeographischen Gründen mit den derzeit verfügbaren Mitteln der Ukraine kaum zurückeroberbar ist. Die Halbinsel verfügt über lediglich drei Landzugänge, von denen zwei für militärische Hauptoperationen völlig ungeeignet sind. Der dritte, der Isthmus von Perekop, wiederum misst an seiner schmalsten Stelle gerade einmal 5 km und wurde inzwischen von den Russen stark befestigt. Seelandungen mit Marine-Infanterie sind in Anbetracht der Überlegenheit der russischen Schwarzmeerflotte höchst riskant. Das Gleiche gilt für unterstützende Luftlandungen angesichts der selbst nach der Lieferung von F-16-Kampfjets im Luftraum über den russisch besetzten Gebieten im Wesentlichen fortbestehenden ukrainischen Luftunterlegenheit.

Die Landenge von Perekop / Isthmus von Perekop.
Die Landenge von Perekop / Isthmus von Perekop.

Werden sich die Russen denn solange verteidigen wollen? Man hört von demoralisierten Truppen.
Erkennbar ist, dass die Moral der ukrainischen Truppen insgesamt höher ist als die der russischen. Die Moral der eingesetzten russischen Soldaten an der Front wird nicht nur durch die dauernden Kämpfe, sondern auch dadurch beeinträchtigt, dass wegen des fortgesetzten ukrainischen Drucks die Ablösungsintervalle oft nicht eingehalten werden. Trotzdem kann, von Ausnahmen abgesehen, nicht ernsthaft von einer Demoralisierung der russischen Einheiten gesprochen werden. Gegen eine solche Mutmassung sprechen insbesondere die über rund zwei Monate wiederholten Abwehrerfolge der bei Robotyne eingesetzten Verbände, die fortbestehende Fähigkeit der Russen zu Gegenangriffen und zur geschickten elastischen Verteidigung, aber auch die offene Äusserung der Stellvertreterin des ukrainischen Verteidigungsministers, Ganna Malyar, vom 28.8.2023 über den erbitterten Widerstand, den die Russen trotz des Verlusts von Robotyne bei Nowoprokopiwka und Otscheretuwate leisten. Nimmt man darüber hinaus die Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg zum Massstab, als die Moral der russischen Armee trotz ungleich schwierigerer Rahmenbedingungen erst nach mehr als drei Jahren zusammenbrach, erscheint es vorläufig nicht angebracht, ernsthaft zu erwarten, Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine werde infolge eines Zusammenbruchs der Moral der russischen Truppen enden.

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45 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Ricky LaFleur
07.09.2023 20:29registriert März 2021
Super Interview. Gute Fragen und äusserst substanzreiche Antworten.

Ob es in den militärtaktischen Details korrekt ist, kann ich als Laie nicht beurteilen, aber: Mertens scheint die historischen Umstände des Deutsch-Sowjetischen Krieg und die aktuelle Situation im Ukrainekrieg profund zu kennen.

Diese Kombination von historischer und aktueller Expertise ist selten. Danke für das Interview.
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Heini Hemmi
07.09.2023 20:59registriert November 2017
…und wir dachten vor Kurzem noch, es gäbe keine konventionellen Kriege mehr, und wir könnten die Armee abschaffen. Klarer Fall von „denkste“! Und als wäre das alles nicht genug, werden wir wieder von einem faschistischen, schwerverbrecherischen Imperium bedroht!
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Legal
07.09.2023 22:52registriert September 2020
Wenn es nach dem Bundesrat ginge, müsste sich die Ukraine mit Steinschleudern und Mistgabeln verteidigen, welche selbstverständlich nicht von der neutralen Schweiz geliefert werden dürften.
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Putin beauftragte Nawalnys Tod laut US-Geheimdiensten nicht direkt

US-Geheimdienste gehen laut einem Bericht des «Wall Street Journals» davon aus, dass Russlands Präsident Wladimir Putin den Tod des Kreml-Gegners Alexej Nawalny nicht direkt angeordnet hat. Dies entbinde Putin zwar nicht von seiner Verantwortung, vertiefe aber das Rätsel um den Tod des im Februar in einem Straflager gestorbenen Dissidenten, schrieb die Zeitung am Samstag unter Berufung auf Geheimdienstquellen. Zuvor hatte Nawalnys Team im Exil im Ausland unter anderem behauptet, Putin habe Nawalny töten lassen, um einen geplanten Austausch des Gefangenen mit im Westen inhaftierten Russen zu verhindern.

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