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Verein sagt, Kita-Kinder sind dümmer – jetzt hagelt es Kritik

Verein sagt, Kita-Kinder sind dümmer – jetzt hagelt es Kritik

Eine Studie zur Krippenbetreuung führt derzeit zu gehässigen Diskussionen in den sozialen Medien. Publik gemacht hat sie der ehemalige SVP-Nationalrat Toni Bortoluzzi.
14.12.2018, 05:17
Barbara Inglin / ch media
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«Kinderkrippen reduzieren IQ des Kindes», schreibt er in einer Broschüre des Vereins «Schutz-Initiative», welchen er präsidiert. «Mit jedem zusätzlichen Monat, den Kinder in der Kita verbringen, reduziert sich der bei ihnen später gemessene IQ um durchschnittlich 0.5 Prozent», zitiert Bortoluzzi aus der Studie.

Nun hagelt es Kritik. Bortoluzzi wird als Tattergreis beschimpft, der sich die Frauen zurück an den Herd wünscht, die Studienergebnisse werden als Humbug abgetan. Zu Recht?

Kita Kind Hände Farbig
Ein Kind in der Kita: Nicht gut, findet Toni Bortoluzzi. Intelligenter wäre laut ihm die Betreuung zu Hause.Bild: shutterstock.com

Verfasst wurde die Studie von drei Wissenschaftlern der Universität Bologna. Sie haben untersucht, welche Langzeitfolgen bei Kindern auftreten, die bereits vor dem zweiten Lebensjahr eine Kindertagesstätte besuchen.

Tatsächlich kommen sie zum Schluss, dass ein zusätzlicher Monat in der Kita den IQ um 0.5 Prozent senkt. Das Ergebnis bezieht sich allerdings nur auf gut situierte Familien.

Weniger Eins-zu-eins-Betreuung

Die Studienautoren äussern die Vermutung, dass Kinder in der Kita weniger hochwertige Eins-zu-eins-Betreuung geniessen als zu Hause. Dies könnte eine Auswirkung auf die Entwicklung der Intelligenz haben, schreiben die Autoren.

In den untersuchten Tagesstätten kam im Schnitt eine Betreuerin auf vier Kinder unter einem Jahr. Bei den Ein- und Zweijährigen lag das Betreuungsverhältnis bei 1 zu 6.

Toni Bortoluzzi (SVP-ZH) spricht waehrend einer Debatte im Nationalrat, am Donnerstag, 4. Juni 2015 waehrend der Sommersession der Eidgenoessischen Raete in Bern. (KEYSTONE/Peter Klaunzer)
Ex-SVP-Nationalrat Toni Bortoluzzi.Bild: KEYSTONE

Für die Studie wurden rund 450 Interviews mit Eltern durchgeführt, deren Kinder vor dem zweiten Lebensjahr eine Kinderkrippe in Bologna besucht haben. Der IQ der Kinder wurde zwischen dem 8. und 14. Lebensjahr getestet.

Für Bortoluzzi und die «Schutz-Initiative» ist die Schlussfolgerung aus der Studie klar: Kitas sind schlecht für Kinder, ideal betreut sind sie zu Hause, sprich von der Mutter.

Eine Frage des Betreuungsschlüssels

Studienautorin Margherita Fort widerspricht: Die Kita habe nur dann einen negativen Effekt, wenn zu wenig Betreuungspersonen präsent seien.

Zudem könne aus der Studie keineswegs geschlossen werden, dass die Mütter mit ihren Kindern zu Hause bleiben müssen. «Die Eins-zu-eins-Betreuung kann zum Beispiel bestens vom Vater übernommen werden», so Fort.

Kinderarzt Oskar Jenni, Leiter der Abteilung Entwicklungspädiatrie am Kinderspital Zürich, hat seine Mühe mit der Studie. Diese sei von Ökonomen verfasst worden, denen fundiertes psychologisches Wissen fehle. Der Befund zur verminderten IQ-Leistung bei Kita-Betreuung sei nicht plausibel.

«Es ist richtig, dass die ersten zwei Lebensjahre gewisse Risiken bergen.»
Kinderarzt Oskar Jenni

Der wichtigste Faktor für die Höhe des IQs sei die genetische Veranlagung. Bildungsstand der Eltern oder die Förderung spielten demgegenüber nur eine geringe Rolle. «Dass der Einfluss der Kita auf den IQ derart gross sein soll, ist aufgrund des aktuellen Forschungsstandes sehr unwahrscheinlich», sagt Jenni.

«Die Realität ist komplexer»

«Die Studie greift zu kurz», sagt Heidi Simoni, Leiterin des Marie MeierhoferInstituts, welches auf Themen zur frühen Kindheit spezialisiert ist. Dass Kleinkinder auf vertraute und verfügbare Personen angewiesen seien, stimme zwar. Die Schlussfolgerungen der Autoren beurteilt sie aber als zu oberflächlich.

«Die Studie geht davon aus, dass die Betreuung zu Hause ideal ist und in der Kita nicht. Die Realität ist komplexer, hier und dort kommt es auf eine gute Qualität an und das ganze Arrangement muss stimmen», sagt die Psychologin.

Sind Kita-Kinder dümmer als andere Kinder?

Oskar Jenni kann der Diskussion aber etwas Positives abgewinnen: «Es ist richtig, dass die ersten zwei Lebensjahre gewisse Risiken bergen.»

Er verweist auf anerkannte Studien, die nachweisen, dass die jüngsten Kita-Kinder höhere Stresshormonwerte aufweisen als solche, die zu Hause betreut werden. Bei einer nicht optimalen Betreuung sei die Bindungssicherheit gefährdet, dies könne später zu psychischen Störungen führen.

Verlässliche Bezugspersonen

Wichtig für eine gute Kita ist laut beiden Experten, dass das Kind wenige, verlässliche Bezugspersonen habe. Zudem fordern sie einen adäquaten Betreuungsschlüssel von maximal drei Kindern unter zwei Jahren pro erwachsene Person. Entscheidend sei auch die Fähigkeit der Betreuer, auf das einzelne Kind und auf die Gruppe einzugehen.

Es bleibt die kontroverse Frage, wie viel Kitazeit einem Kind unter zwei Jahren zugemutet werden kann. «Ganz wichtig ist, dass es nicht monsterlange Kitatage sind. Bei unter Zweijährigen liegt die Schmerzgrenze bei sechs bis acht Stunden», sagt Simoni. Dass die pädagogischen Forderungen nicht immer mit der Realität vereinbar sind, wissen die Fachleute. Sie sehen die Lösung in einer Elternzeit sowie familienfreundlicheren Arbeitszeiten. (aargauerzeitung.ch)

«Wo finde ich jetzt dieses internet.ch?» – Eltern und Technik

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81 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Neunauge
14.12.2018 06:50registriert November 2014
Da dacht ich schon der sitzt im Altersheim. Und plötzlich zuckt er wieder, der verdrehte Hirnlappen.
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saukaibli
14.12.2018 07:23registriert Februar 2014
Hier wird wie so oft "Korrelation" mit "Kausalität" verwechselt. So eine kleine Studie in relativ kurzer Zeit sagt einfach mal gar nichts aus. Das beste, was diese Studie bringen kann, ist, dass sie zu erweiterten Studien führt. Ansonsten ist sie nicht mehr als Arbeitsbeschaffung für ein paar Wissenschaftler. Das Schlechte, was solche Studien bringen ist, dass Leute, die sich in den Ergebnissen bestätigt sehen, diese als Beweis für ihre Meinung heranziehen, obwohl nicht mal die beteiligten wissenschaftler das behaupten. Sowas sieht mal leider sehr oft.
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1+1=3! Initiative
14.12.2018 07:43registriert Januar 2018
Lieber Herr Bortoluzzi, hier noch eine weitere Studie: Am stärksten betroffen sind jene Kinder, welche während des ersten Monats durch ihre Mütter ins Parlament mitgebracht werden.

Quelle: Auswertung der Blitze in div. Onlineforen Schweizer Medien.

Kann Spuren von Ironie beinhalten.
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