Es war nicht der Tag des Kreml-Chefs: Zuerst hatte ihm der Dopingskandal in der russischen Leichtathletik die Laune verdorben, die womöglich den Ausschluss bei Olympia 2016 in Rio de Janeiro nach sich zieht.
Dann verspäteten sich auch noch die russischen Sportfunktionäre, denen Wladimir Putin den Kopf waschen wollte, wegen Flugzeugschaden und Platzregen in Sotschi. Und als Putin, um die Zeit zu überbrücken, sich mit der russischen Militärführung traf, tauchten im russischen Staatsfernsehen auch noch geheime militärische Unterlagen auf.
Eigentlich lieferten die Sender nur die obligatorische Berichterstattung über Putins beschwerlichen Präsidentenalltag ab. Doch irgendwer hatte dem staatlichen «Ersten Kanal» und dem von dem halbstaatlichen Energieriesen Gazprom geführten Sender NTW dabei ein Papier über ein neuartiges Torpedo-System unter dem Namen «Status-6» in die Kamera gehalten.
Gut lesbar ist dort der Verwendungszweck des Waffensystems beschrieben: «Die Vernichtung wichtiger Wirtschaftsobjekte des Gegners im Küstenbereich und die garantierte Zufügung schwerster Beschädigungen des Territoriums durch die Schaffung weiträumiger radioaktiv verseuchter Zonen, die für die militärische, landwirtschaftliche oder irgendeine andere Tätigkeit auf lange Zeit unbrauchbar gemacht werden.»
Laut Militärexperten geht es in dem Konzept grob darum, die Ostküste der USA einfach mit Atomwaffen auszulöschen. Als Erster soll die Idee übrigens bereits in den 1960er-Jahren der Erfinder der sowjetischen Wasserstoffbombe, Andrej Sacharow, geäussert haben, der später zum Dissidenten und Friedensnobelpreisträger wurde.
Als potenzielle Abschussrampen gelten gemäss dem neuesten Konzept zwei noch zu bauende Atom-U-Boote, die vom Konstruktionsbüro «Rubin», einem der führenden U-Bootbauer Russlands, geliefert werden sollen. Die U-Boote der neuesten Generation werden dabei als «Basis der strategischen Atomwaffenkräfte Russlands im 21. Jahrhundert» gekennzeichnet.
Die Veröffentlichung rief augenblicklich einen Skandal hervor. Der Kreml reagierte verärgert über die Panne. «Tatsächlich sind einige Geheiminformationen in das Objektiv der Kamera geraten, darum wurden sie sofort gelöscht. Wir hoffen, dass sich so etwas nicht wiederholt», sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow.
Das Löschen der Aufnahmen hatte freilich wenig Effekt, denn die Screenshots kursierten schnell im Internet und wurden auf zahlreichen Blogs diskutiert.
Vor allen Dingen die Frage, ob die Veröffentlichung wirklich ein Versehen war, wird nun kontrovers erörtert. Die russische Sicherheitsexpertin Irina Borogan jedenfalls glaubt nicht an eine Panne: «Das hat der Kreml bewusst durchsickern lassen», vermutet sie.
Die Berichte über das Treffen und damit auch das Geheimdokument wären kaum zur Kenntnis genommen worden, «hätte man von oben nicht gezielt die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, indem die Medien zur Rechenschaft gezogen wurden», sagte Borogan der «Nordwestschweiz».
Stimmt die Vermutung, dürfte der Zweck der Übung eine weitere Kraftdemonstration gewesen sein. Moskau und Washington streiten seit Jahren um den Aufbau eines US-Raketenschilds in Osteuropa. Russland fühlt dadurch seine eigene Sicherheit untergraben.
Putin hatte den USA vor einer Woche vorgeworfen, mit dem Versuch, die russischen Atomwaffen ausschalten zu wollen, das nukleare Gleichgewicht zu gefährden. Russland habe Mittel, um diesen Raketenschirm zu überwinden, sagte er. Die nun gezeigten Bilder scheinen Putins Behauptung zu untermauern. Das Pentagon hat auf jeden Fall angebissen: Ab 2016 soll ein Abfangjäger für Atom-U-Boote entwickelt werden, heisst es. (aargauerzeitung.ch)