Als die Lichter gelöscht werden und es dunkel wird in der Arena zu Piestany, flimmern gespenstisch oben auf der Anzeigetafeln die «2», «4», «13:53» und «USSR – CANADA».
Exakt nach 13:53 Minuten im zweiten Drittel der letzten Partie dieses Turniers lässt IIHF-Präsident Dr. Günter Sabetzki als letzte verzweifelte Massnahme die Lichter löschen und die Uhren stehen still. Er hofft, so die Massenschlägerei beenden zu können. Es nützt nichts. Wer genau den Befehl zum Lichterlöschen gegeben hat, ist allerdings in der Geschichtsschreibung umstritten.
An diesem 4. Januar wird im Städtchen und Kurort Piestany (30'000 Einwohner, 90 Kilometer hinter Bratislava) wo schon Napoléon badete, Eishockey-Weltgeschichte geschrieben. Das letzte Spiel der U20-WM muss wegen einer Massenschlägerei abgebrochen werden, Kanada und die UdSSR werden disqualifiziert. Die Finnen erben den Titel.
Die U20-WM ist zwar bereits Ende der 1980er Jahre sportlich ein wichtiges Turnier, weil die besten jungen Spieler aller Länder dabei sind (was wegen der NHL bei der richtigen WM ja nicht der Fall ist). Aber die Medien nehmen kaum Notiz von der Junioren-WM. Nur ein einziger kanadischer Chronist – Jim Cressmann – ist nach Piestany gereist. Durch diese Massenschlägerei ändert sich alles. «The Punch-Out in Piestany» schafft es sogar bis in die New York Times. Gare Joyce schreibt über dieses Spiel einen über 300 Seiten dicken Bestseller «When the Lights went out» (als die Lichter ausgingen).
Die U20-WM wird dank Piestany in Nordamerika zum Medienereignis und «Big Business». Heute erreichen die U20-Partien der Kanadier im kanadischen TV gleich hohe Einschaltquoten wie die NHL. In Nordamerika sind bei einer U20-WM jeweils praktisch alle Partien ausverkauft.
Was ist in Piestany passiert? Erst eine Kombination von unglücklichen Umständen ermöglicht diesen Ausbruch von Gewalt:
Der «Kalte Krieg» heizt die Rivalität im Eishockey an. Die Partien der Kanadier oder Amerikaner gegen die Sowjets sind politische Ereignisse. Es ist ein «Krieg der Systeme» (Kapitalismus vs. Sozialismus). Gut gegen Böse. Schon 1985 war es in Prag im letzten Spiel der richtigen WM zu einer von Slawa Fetisow provozierten Massenschlägerei zwischen den Amerikanern und den Sowjets gekommen.
Dr. René Fasel, damals in Piestany Schiedsrichter-Chef und heute IIHF-Präsident sagt: «Für das, was in Piestany passiert ist, können wir nicht die Schiedsrichter verantwortlich machen. Die beiden Teams waren so geladen, dass wahrscheinlich kein Schiedsrichter der Welt dazu in der Lage gewesen wäre, diese Eskalation zu verhindern. Das war schon beim Warm-Up zu spüren.» Und Fasel stellt auch gleich klar: «Es waren die Kanadier, die diese Schlägerei provoziert haben. Ganz eindeutig.»
Die Partie beginnt mit einem wüsten, ungeahndeten Ellenbogencheck von Sergej Schesterikow gegen Dave McLlwain und einem ebenfalls ungeahndeten Revanchefoul. Die Schlägerei wird durch einen Zusammenstoss zwischen Everett Sanipass und Sergej Schesterikow 6:07 Minuten vor Ende des zweiten Drittels ausgelöst.
Schnell gerät alles ausser Kontrolle. Schiedsrichter Hans Ronning und seine beiden Linienrichter kapitulieren bald einmal, verlassen das Eis und kehren in die Garderobe zurück. Schliesslich wird das Licht vorübergehend gelöscht. Nach und nach lassen die Spieler voneinander ab und kehren ebenfalls in die Garderobe zurück, nachdem sie erst bei den Spielerbänken warteten.
Es gibt mindestens zwölf ganz grosse «Fights» und Theo Fleury schwärmt hinterher, die Kanadier hätten gekämpft, als gehe es um eine Weltmeisterschaft. Als es nach rund 20 Minuten wieder Licht wird in der Arena, sehen die 4000 Fans nur noch, wie die Angestellten die auf dem ganzen Eis verstreuten Ausrüstungsgegenstände einsammeln.
Das Spiel wird nicht wieder aufgenommen. Die Kanadier werden aufgefordert, das Stadion und das Land sofort zu verlassen und sind bald in einem Bus mit Polizei-Eskorte Richtung Flughafen Wien unterwegs. Beim Zoll in Bratislava werden sie noch vier Stunden lang schikaniert. Die Spieler nehmen es gelassen, einige realisierten es wohl gar nicht mehr richtig: Das Team war während des Turniers zur Besichtigung eines Weingutes eingeladen worden. Die Jungs hatten einige Flaschen mitlaufen lassen, die nun ausgetrunken wurden.
Die Turnierleitung streicht Kanada und die Sowjets aus der Rangliste und den Nominationen fürs All-Star-Team, wagt es jedoch nicht, beide Teams in die B-Gruppe zu relegieren. Finnland erbt den WM-Titel. Sämtliche Spieler werden 18 Monate für alle internationalen Einsätze gesperrt, die Coaches für drei Jahre. Die Sperren für die Spieler werden später auf 6 Monate reduziert – alle können in der nächsten Saison wieder antreten.
Es ist ein Spiel, das in Nordamerika (aber nicht in Europa) unendlich Stoff für Storys liefert. In Kanada melden sich alle zu Wort, die gerne etwas sagen: Politiker, Künstler, Intellektuelle. Es gibt Verschwörungstheorien. Die Sowjets hätten mit der Schlägerei den Spielabbruch provoziert, um so die Kanadier um den WM-Titel zu bringen. Als Argument dient der Fakt, dass offenbar Ewgeni Davidov als erster über die Bande sprang, um zu prügeln. Diese These lässt sich nicht halten. Zumal IOC-Mitglied und IIHF-Präsident Dr. René Fasel, heute höchster Hockey-Funktionär, ganz klar sagt, dass die Kanadier die Prügelei begonnen haben.
Für die Kanadier ist diese Partie Quelle unzähliger Heldensagen. Es ging in Piestany sozusagen um Vaterlandsverteidigung. Sehr genau ist registriert worden, dass zwei Spieler nicht mitgeprügelt haben: Steve Nemeth und Pierre Turgeon. Steve Nemeth verschlimmert seine Situation noch, weil er mit dem Argument, er habe nicht geprügelt, persönlich Rekurs gegen die 18 Monate-Sperre macht. In der Hoffnung, durch eine Reduktion doch noch bei den Olympischen Spielen 1988 in Calgary spielen zu können. Ein böser Fehler.
Später werden sowieso alle Sperren auf 6 Monate heruntergefahren und er steht nun erst recht als Feigling da. Seine Karriere bleibt bescheiden (nur 12 NHL-Spiele) und er wird auch nicht fürs Olympiateam nominiert. Pierre Turgeon macht zwar eine schöne NHL-Karriere, bringt aber selbst durch über 1000 NHL-Spiele den Schwefelgeruch der Weichheit nicht mehr aus den Kleidern.
Puritaner orakelten, die «Schande von Piestany» werde die Karrieren der wilden Jungs ruinieren. Das Gegenteil ist der Fall. 19 der 20 eingesetzten Kanadier bestreiten mindestens ein NHL-Spiel. So mancher der Gladiatoren legt gar eine grandiose Karriere hin: Zum Beispiel Brendan Shanahan, Theo Fleury, Kerry Huffman, Mike Keane, Luke Richardson, Glen Wesley, Steve Chiasson oder Pierre Turgeon.
Ein tragisches Schicksal erleidet Steve Chiasson. Er verunglückt nach der Saisonschlussparty der Carolina Hurricans auf der Heimfahrt mit seinem Auto tödlich. Er hatte sich geweigert, ein Taxi zu nehmen. Er hatte 2,7 Promille im Blut, mehr als dreimal mehr als der in Carolina zulässige Wert.
Bis 1987 hatte nur ein einziger Russe (Victor Nechajew) in der NHL gespielt. Es sind nicht nur die politischen Veränderungen, die den Russen den Weg in die NHL ebnen. Dass sie sich nach dem Zusammenbruch des Kommunismus in der NHL so schnell durchsetzen, hat auch etwas mit der «Schlacht von Piestany» zu tun. Sie gelten fortan nicht nur als sehr talentiert, sondern auch als wehrhaft. Von den beteiligten Russen bringen es unter anderem Sergej Fedorow, Wladimir Konstantinow, Alexander Mogilny und Wladimir Malachow auch in der NHL zu Starruhm.
Die Schweizer verlieren übrigens bei dieser U20-WM alle sieben Spiele mit einem Torverhältnis von 15:62 und steigen ab. Die beste Partie ist die heroische Startniederlage gegen Kanada – nur 4:6 mit den Torschützen André Küenzi, Raymond Walder, Toni Nyffenegger und Romeo Mattioni.