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Analyse

Energiewende in der Schweiz: Jetzt muss es vorwärts gehen

Die zurueckgetretene Bundesraetin Simonetta Sommaruga, schenkt ihrem Nachfolger im UVEK, Bundesrat Albert Roesti, ein Solarmodul, anlaesslich der Schluesseluebgabe im UVEK, am Freitag, 23. Dezember 20 ...
Bundesrat Albert Rösti mit dem Solarmodul, das ihm Vorgängerin Simonetta Sommaruga zum Amtsantritt geschenkt hatte.Bild: keystone
Analyse

Bahn frei für die Energiewende – doch ein AKW ist keine Option

Der Mantelerlass zur Förderung erneuerbarer Energien ist im Parlament so gut wie durch. Doch er ist nur der Anfang, denn das heutige Ausbautempo muss massiv gesteigert werden.
22.09.2023, 19:3222.09.2023, 20:37
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Ist das Glas halb voll oder halb leer? Dieser ominöse Vergleich ist im konkreten Fall fast ein wenig «schmörzelig». Man müsste von einem Fass oder einem Container sprechen. Denn das Bundesgesetz für eine sichere Stromversorgung mit erneuerbaren Energien ist eine «Jahrzehntvorlage». Mit ihr soll die 2017 beschlossene Energiewende endlich abheben.

Im Parlament befindet sich der sogenannte Mantelerlass auf der Zielgeraden. Der Ständerat hat diese Woche die wichtigsten Differenzen zum Nationalrat ausgeräumt. Damit ist das Gesetz weitgehend bereit für die Schlussabstimmung am nächsten Freitag. Und es ist möglich, dass es ohne Umweg über eine Volksabstimmung in Kraft treten kann.

Ilanz Solarpark (Visualisierung)
Visualisierung der geplanten Axpo-Solaranlage in einem Skigebiet in Graubünden.Bild: Screenshot Axpo

Die SVP wird das Referendum kaum ergreifen, denn ihr «Stein des Anstosses», eine Solarpflicht für Gebäude und Parkplätze, wurde gestrichen. Und die Volkspartei wird es kaum riskieren, schon wieder gegen ihren Bundesrat Albert Rösti anzutreten. Der Mantelerlass ist für ihn ein Prestigeprojekt, anders als das im Juni angenommene Klimaschutzgesetz.

Wichtige Elemente

Möglich ist ein Referendum kleinerer Umweltorganisationen, doch bei der Lockerung der Restwasservorschriften für die Wasserkraft hat der Ständerat den ökologischen «Worst Case» abgewendet. Auch sonst würde ein Referendum wenig Sinn ergeben, nachdem es weder beim Solar- noch beim Windexpress ergriffen wurde.

Die überschaubare Opposition könnte zum Schluss verleiten, dass der Mantelerlass «zahnlos» und das Glas – oder Fass – halb leer ist. So einfach aber ist es nicht. Das Gesetz enthält wichtige Elemente, etwa eine gleitende Marktprämie und Effizienzmassnahmen, an denen der Ständerat festhielt. Denn der beste Strom ist der, der gar nicht verbraucht wird.

Grosse «Stromlücke»

Zwar wurde im letzten Jahr mehr Photovoltaik zugebaut als je zuvor. Solaranlagen decken bereits rund sieben Prozent des jährlichen Schweizer Strombedarfs. Und für dieses Jahr rechnet der Verband Swisssolar erneut mit einem Rekordzubau. Und doch stehe die Energiewende mit dem Mantelerlass erst am Anfang, betonen Branchenvertreter.

Der Verband Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen (VSE) rief diese Woche in Erinnerung, dass die Schweiz bis 2050 eine «Stromlücke» von mindestens 37 Terawattstunden schliessen müsse, vorzugsweise mit Wasser-, Solar- und Windkraftanlagen. Mit den vorliegenden 104 Ausbauprojekten würden 4 Terawattstunden realisiert, das Ziel also klar verfehlt.

Fehlender Leidensdruck

«Das heutige Ausbautempo reicht bei Weitem nicht, um diese Lücke zu schliessen», folgert der VSE. Mehr Tempo muss her und die «innere Handbremse» gelöst werden. Damit gemeint ist etwa der fehlende Leidensdruck. Viele haben die Dringlichkeit nicht realisiert, auch weil es im letzten vermeintlichen Krisenwinter immer genug Strom gab.

Ausserdem wird zu oft auf die unmittelbaren Kosten geschaut und zu wenig auf den langfristigen Nutzen. Solar-, Wind- und Wasserkraftanlagen benötigen Investitionen und stellen teilweise einen Eingriff in die Landschaft dar. Es ist dasselbe Problem, das die Einführung von Lenkungsabgaben erschwert, so sinnvoll sie auf dem Papier auch sein mögen.

Potenzial auf Parkflächen

Es ist deshalb bedauerlich, dass die Solarpflicht auf Parkplätzen gekippt wurde. Bei uns gibt es keine gigantischen Parkflächen wie im Europapark oder im Disneyland Paris, die mit Solardächern versehen wurden oder werden. Aber das Potenzial ist beträchtlich, und Ladestationen können mithelfen, die «innere Handbremse» beim Erwerb von Elektroautos zu lösen.

Solaranlage Parkplatz Disneyland Paris
Eine Tochterfirma des Schweizer Axpo-Konzerns erstellt auf den Parkplätzen von Disneyland Paris eine der grössten Solaranlagen in Europa.Bild: Disney

Eine Realisierung bleibt aber möglich, wenn die Anreize vorhanden sind. Diese müssen nicht zwingend pekuniärer Art sein. Manchmal muss nur jemand mit gutem Beispiel vorangehen, damit andere nachziehen. Etwa eine Solaranlage auf dem Dach des eigenen Hauses installieren und die Nachbarn dadurch animieren, sich auch eine zu besorgen.

Energiewende nicht gescheitert

Es braucht gar nicht so viel, um die innere Handbremse zu lösen. Auch der Solarexpress ist trotz des Neins im Wallis nicht entgleist. Wenige Tage nach dem Volksentscheid stellte die Axpo ein Projekt für eine alpine Anlage an einer Skipiste oberhalb von Ilanz (GR) vor, das bei der Bevölkerung gut ankommt, weil es sich um ein «vorbelastetes» Gebiet handelt.

Die Energiewende wurde nach der Abstimmung 2017 «verlauert», aber gescheitert ist sie keineswegs, auch wenn gewisse Kreise dies behaupten. Auch die FDP, deren Präsident Thierry Burkart in der «NZZ am Sonntag» forsche Töne anschlug, verlangt in ihrer diese Woche eingereichten Fraktionsmotion nur, dass die Energiestrategie «überarbeitet» wird.

AKW-Fantasien dank ETH-Studie

Dazu gehört für die FDP ein Stromabkommen mit der EU, und die bestehenden Atomkraftwerke sollen «möglichst lange sicher betrieben werden». Von neuen AKW an den bestehenden Standorten, die Burkart postulierte, ist nur indirekt die Rede. Die Schweiz müsse Zeit gewinnen «für die Planung und den Bau neuer Grosskraftwerke».

Inbetriebnahme 1972, Abschaltung 2019: Das AKW Mühleberg westlich von Bern.
Das AKW Mühleberg wurde 2019 abgeschaltet. Für Bundesrat Rösti ein Fehlentscheid, doch niemand spricht von einem Neubau.Bild: KEYSTONE

Auftrieb erhielten die AKW-Fantasien zuletzt durch eine ETH-Studie im Auftrag von Economiesuisse. Diese wurde teilweise als Aufruf zum Bau neuer Kernkraftwerke interpretiert, nicht zuletzt durch den Auftraggeber. Dabei betonte selbst der Studienleiter im Interview mit Tamedia, ein neues AKW wäre ökonomisch «die teuerste Variante».

Hohe Kosten, lange Bauzeit

Aus diesem Grund will selbst die Branche nichts wissen von einem neuen AKW. Das sei «kein Thema», sagte die Lobbyistin eines grossen Stromkonzerns im Gespräch. Die Kernenergie habe unbestreitbar Vorteile. Man könne auf kleinem Raum sehr viel Strom produzieren, der (fast) ständig verfügbar sei. Doch der Weg zu einer Realisierung ist weit.

10 Milliarden Franken Kosten, 20 Jahre Planungs- und Bauzeit: Diese Eckwerte skizzierte die Lobbyistin im Gespräch. Und die Risiken sind gross. Werner Luginbühl, der Präsident der Eidgenössischen Elektrizitätskommission (ElCom), sprach kürzlich vor den Medien Klartext: Die meisten der weltweit im Einsatz befindlichen Reaktoren seien älteren Datums.

Diskussion «kontraproduktiv»

Wenn nur einer davon «hops» gehe, sei es das gewesen. Oder die Kosten würden erst recht explodieren, meint die Stromlobbyistin. Der viel gerühmte Small Modular Reactor (SMR) ist nach wie vor mehr ein Versprechen als eine verfügbare Option. Und die Erfahrungen mit der Nukleartechnologie zeigen, dass Zeit- und Kostenrahmen kaum je eingehalten werden.

Für Energieminister Albert Rösti ist nur schon die Diskussion über eine Aufhebung des AKW-Bauverbots «müssig – wenn nicht sogar kontraproduktiv», wie er im NZZ-Interview sagte. Er beweist damit Realitätssinn. Statt den Träumen eines neuen Kernkraftwerks nachzujagen, gilt es, die heute vorhandenen Möglichkeiten optimal auszuschöpfen.

Energieabkommen mit der EU

Das bedeutet einen beschleunigten Ausbau der Solarenergie, auch mit alpinen Projekten, den Bau einer gewissen Anzahl Windräder und die Realisierung möglichst aller am Runden Tisch beschlossenen Wasserkraftprojekte. Und ein Strom- oder besser Energieabkommen mit der EU, auch mit Blick auf die mögliche Versorgung mit «grünem» Wasserstoff.

Letzteres ist eine politische Frage, die nur gelöst werden kann, wenn die Schweiz die institutionelle Anbindung an die EU klärt. Für den inländischen Ausbau ist der Mantelerlass unerlässlich. Er wird vielleicht keine Wunder bewirken (das wäre definitiv zu viel verlangt), doch er kann dazu beitragen, so manche «innere Handbremse» zu lösen.

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Abschaltung des AKW Mühleberg
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110 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Fklroo
22.09.2023 21:22registriert November 2019
Die besten Voraussetztungen für Solar hat bei meinem Wohnort der Kanton und die Gemeinde selbst. Genügend Kapital und riesige Flächen auf Bahnhof, Grundschule, Oberstufe, Gemeindshaus usw...aber kein Panel zu sehen.
Klar wird die Dringlichkeit nicht erweckt, wenn die führende Obrigkeit nicht mit gutem Beispiel vorangeht!
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Piggeldy's Bruder Frederick's Schwippschwager
23.09.2023 00:15registriert November 2021
"Ist das Glas halb voll oder halb leer?"

Ich möchte mich mal diesem "ominösen" Vergleich widmen.

Ich sehe das so: Wenn ich ein leeres Glas bis zur Hälfte fülle, ist dieses Glas halb voll. Wenn ich das Glas aber nun ganz fülle und dann wieder bis zur Hälfte leere, dann ist es halb leer.
Hat also immer mit der Ausgangssituation zu tun.

Ich weiss, völlig am Thema vorbei...

Oder doch nicht? 🤔
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