Wenn in einem Satz zweimal das Wort «massiv» verwendet wird, handelt es sich um Übertreibung bis Panikmache. Oder um ein ernsthaftes Problem. Genau dies ist der Fall bei der Schweizer «Energiezukunft 2050». So lautet der Titel einer Studie, die der Verband Schweizerischer Elektrizitätswerke (VSE) mit der Forschungsanstalt Empa erstellt hat.
Sie wurde am Dienstag an einer Medienkonferenz in Bern vorgestellt und skizziert verschiedene Szenarien für eine sichere und klimaneutrale Energieversorgung bis 2050. Diese zeigen auf, dass der Umbau des Schweizer Energiesystems im Prinzip möglich, aber auch ein Kraftakt ist, der «gewaltige Anstrengungen von Politik und Gesellschaft benötigt».
Oder um den eingangs erwähnten Satz zu zitieren:
Dies bringt die Herausforderung auf den Punkt, die den neuen Energieminister Albert Rösti erwartet. Denn jahrelang hat sich kaum etwas getan, auch nicht nach der Annahme der Energiestrategie 2050 vor fünf Jahren. Zuletzt gab es einen Aufwärtstrend bei der Photovoltaik, aber im gleichen Zeitraum wurde das AKW Mühleberg abgeschaltet.
«Unter dem Strich fand kein Zubau statt», sagte VSE-Direktor Michael Frank gewohnt pointiert. Dabei entsteht vor allem wegen der Dekarbonisierung, also dem Ausstieg aus den fossilen Energieträgern Öl und Gas, ein gewaltiger Mehrbedarf an Strom. Bis 2050 müssten ab sofort jährlich 1,3 Terawattstunden (TWh) hinzukommen, so Frank: «Das ist gigantisch.»
Die Studie ist eine wissenschaftliche Modellierung, die das Gesamtenergiesystem bis 2050 simuliert (unter Berücksichtigung von Effizienzgewinnen und Bevölkerungswachstum) und die umliegenden Länder berücksichtigt. Sie entwirft vier Szenarien, basierend auf dem inländischen Ausbau (defensiv vs. offensiv) und dem Verhältnis zu Europa (isoliert vs. integriert).
Nicht überraschend wird die Variante «offensiv-integriert» bevorzugt, also ein massiver Zubau im Inland unter Berücksichtigung aller Stromquellen (auch Wind) bei gleichzeitiger Integration in den europäischen Energiemarkt. In diesem Fall beträgt der Mehrbedarf an Strom rund 34 TWh. Beim Gegenstück «defensiv-isoliert» wären es 44 TWh.
Dieser Mehrbedarf benötigt grosse Investitionen. Unter dem Strich aber wird die Schweizer Energieversorgung bis 2050 günstiger sein als heute, erklärte Empa-Forscher Matthias Sulzer an der Medienkonferenz. Das mag erstaunen, doch immerhin fallen die rund sieben Milliarden Franken weg, die jährlich für den Import von Öl und Gas ins Ausland abfliessen.
Hinzu kommt, dass Elektrizität eine effizientere Energiequelle ist als fossile Brennstoffe. Die Gesamtkosten des Energiesystems dürften beim Szenario «offensiv-integriert» von 29 auf 24 Milliarden Franken pro Jahr sinken. Nicht berücksichtigt sind die Netzausbaukosten (etwa auf Smart Grids), doch selbst damit ist die Gesamtbilanz gemäss Sulzer günstiger als heute.
Ab 2040 dürften die verbliebenen Schweizer Atomkraftwerke sukzessive ausser Betrieb gehen. Experten postulieren eine Erweiterung der Betriebsdauer von 60 auf 80 Jahre, doch das ist mit Mehrkosten für die Sicherheit verbunden. Und die gehypten Smart Modular Reactors (SMR) sind laut der Studie frühestens 2045 einsatzbereit, wenn überhaupt.
Es wäre ein Wagnis, auf Atomstrom zu setzen. Die Studie verweist auf eine etwas unerwartete Alternative: Wasserstoff. «Nach 2040 wird grüner Wasserstoff über eine europaweite Infrastruktur verfügbar sein», ist Matthias Sulzer überzeugt. Er würde mit Gaskraftwerken in Strom umgewandelt, was eine Feinverteilung in die Haushalte überflüssig macht.
Die Schweiz ist im Winter von Stromimporten aus der EU abhängig. Bis 2050 werde sich daran nichts ändern, schreiben die Studienautoren. Doch schon ab 2025 sind die Einfuhren wegen einer neuen EU-Regel im heutigen Umfang nicht mehr garantiert. Und je nach Verlauf der aktuellen Energiekrise könnte die Schweiz noch früher abgehängt werden.
Es besteht folglich Handlungsbedarf. Zwar setzt die Studie grosse Hoffnungen in die alpine Photovoltaik und die Windkraft, die auch im Winter Strom liefern. Doch trotz Solaroffensive des Parlaments drohen Verzögerungen, und Windanlagen sind erst recht umstritten. Selbst im besten Szenario muss die Schweiz deshalb weiterhin Strom aus Europa importieren.
Für Studienleiter Nick Zepf vom Stromkonzern Axpo lautet die zentrale Frage: «Will die Gesellschaft, dass wir mit Europa gesamtenergiemässig integriert sind?» Denn die Schweiz brauche nicht nur ein Stromabkommen mit der EU, sondern ein Energieabkommen, wegen der Wasserstoffimporte. Doch Brüssel verlangt als Bedingung ein Rahmenabkommen.
Es ist eine besondere Knacknuss für Bundesrat Albert Rösti von der EU-feindlichen SVP. Michael Frank ist dennoch zuversichtlich. In der Branche kennt man Rösti bestens. Er war nicht nur Öllobbyist, sondern auch Präsident des Wasserwirtschaftsverbands. Und er trug als Nationalrat massgeblich zum Erfolg der Solaroffensive in der Herbstsession bei.
Das Energiezukunft 2050 aber ist eine enorme – oder massive – Herausforderung. Sie ist mit hohen Hürden konfrontiert, nicht zuletzt wegen der Beschwerdemöglichkeiten bis vor Bundesgericht. Aber was ist die Alternative? Deshalb: Übernehmen Sie, Herr Rösti!
Dann wäre ja die SVP besser als die SP?