Für seine Verhältnisse äusserte sich Alain Berset deutlich. Wer sich nicht impfen wolle, müsse die Konsequenzen tragen, erklärte der manchmal zum Schwadronieren neigende Freiburger am Mittwoch vor den Medien. Man könne sich in diesem Fall «nicht mehr auf den Schutz durch staatliche Massnahmen verlassen», betonte der Gesundheitsminister.
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Allzu schwer wiegen diese Konsequenzen vorerst nicht. Offiziell hat der Bundesrat in seiner ersten Sitzung nach den Ferien zwar beschlossen, die «Normalisierungsphase» einzuleiten. Sie ist vorgesehen, «wenn alle impfwilligen Personen geimpft sind». Faktisch aber hat die Landesregierung am Mittwoch entschieden, erst einmal gar nichts zu ändern.
Die «neue Normalität» sieht ziemlich alt aus. Nach wie vor gilt die Maskenpflicht in Innenräumen und im öffentlichen Verkehr, muss beim Besuch eines Fussballmatchs oder Clubs ein Zertifikat vorgelegt werden. In einem Punkt will der Bundesrat die Massnahmen sogar verschärfen: Personen ohne Symptome sollen Corona-Tests ab Oktober bezahlen.
Das ärgert die SVP, die eine sofortige Rückkehr zur Normalität fordert, ebenso den Gewerbeverband, für den eine Rückkehr in die normale Lage ab 1. September «absolut möglich» ist. Der Bundesrat aber verweist auf die «unsichere epidemiologische Lage» aufgrund der deutlich ansteckenderen Delta-Variante und der Ferienrückkehrer.
Letztere dürften wesentlich zum starken Anstieg der Fallzahlen in den letzten Tagen beigetragen haben. Berichte über das wilde Party-Treiben auf Ibiza oder Mykonos deuten darauf hin, dass die Corona-Disziplin in den Ferienregionen zu wünschen übrig liess. Vor diesem Hintergrund ist es nachvollziehbar, dass der Bundesrat nichts überstürzen will.
Der am Mittwoch angekündigte «Paradigmenwechsel» aber ist eine Nebelpetarde. Eigenverantwortung? Hatte in der Schweiz stets einen hohen Stellenwert. Schutz der Spitäler vor Überlastung? War schon immer der wichtigste Faktor beim Entscheid über mögliche Massnahmen. Mit solchen Floskeln kaschiert der Bundesrat seine Ratlosigkeit.
Erst die Hälfte der Schweizer Bevölkerung ist vollständig geimpft. In den letzten Wochen ist die Impfbereitschaft regelrecht kollabiert. Die Schweiz ist zum Schlusslicht in Westeuropa geworden. Viele können sich (noch) nicht impfen lassen, aber ein grosser Teil weigert sich, aus Überzeugung, aus Angst vor Langzeitfolgen, oder weil man sich durchmogeln will.
Dabei zeigt das weltweite, teilweise widersprüchliche Infektionsgeschehen überdeutlich, wie gut die Immunisierung zumindest mit den im Westen entwickelten Vakzinen wirkt. Zwar besteht bei Delta ein erhöhtes Risiko von Impfdurchbrüchen, aber der Schutz vor schweren Krankheitsverläufen ist intakt. Die Impfung ist und bleibt der beste Weg aus der Pandemie.
«Für alle, die noch zögern, ist jetzt der Moment, um eine Impfung zu holen», sagte Alain Berset am Mittwoch. Und weil der Bundesrat diesen Appellen allein nicht vertraut, sollen Zögerer und Verweigerer für Tests bezahlen. Am Rande des Filmfestivals Locarno sagte Berset allerdings, es scheine ihm «ziemlich vernünftig», dass der Bund weiterhin die Kosten übernimmt.
Nun wurde er im Bundesrat offenbar von der SVP/FDP-Mehrheit überstimmt. Das ist im Fall der SVP-Bundesräte pikant, denn die Wählerschaft ihrer Partei lehnt Impfungen teilweise vehement ab. Die Freisinnigen wiederum hatten schon Ende Juli das Ende der Gratis-Tests für Asymptomatische gefordert, die sich impfen lassen können.
Dabei hat Bersets Argumentation ihre Berechtigung. Tests sind ein unentbehrlicher Indikator für das Infektionsgeschehen. Grünen-Präsident Balthasar Glättli forderte deshalb auf Twitter, dass die Tests gratis bleiben. «Damit auch künftig möglichst viele symptomlos Kranke entdeckt werden – und diese nicht mehr Menschen in ihrer Umgebung anstecken.»
Ein Alternativvorschlag wird in der watson-Community diskutiert: Die Tests selber bleiben kostenlos, dafür soll man für das Zertifikat bezahlen, wenn man mit ihnen Party machen oder eine Veranstaltung besuchen will. Man könnte so auch die «Trickser» ausmanövrieren, die mit der Vortäuschung von Symptomen einen Gratis-Test erschleichen wollen.
Vielleicht wird diese Idee in der laufenden Konsultation eingebracht. Es würde sich lohnen, sie zu prüfen, denn das Zertifikat werden wir nicht los. Deshalb ist auch die «Blick»-These unsinnig, Berset befinde sich auf «Kuschelkurs mit Corona-Skeptikern», aus Angst vor einer Niederlage in der zweiten Abstimmung über das Covid-19-Gesetz im November.
Das Referendum der «Skeptiker» richtet sich explizit gegen das Zertifikat, doch in einem Bereich wird es auf absehbare Zeit unentbehrlich bleiben: beim Reisen. Selbst Deutschland verlangt einen Test- oder Impfnachweis bei der Einreise, wenn man länger als 24 Stunden bleibt. Grossbritannien lässt nur Geimpfte quarantänefrei ins Land und verlangt zusätzlich je einen Test vor und nach der Ankunft.
Es kann sein, dass hartgesottene Impfgegner in den nächsten Jahren auf Auslandreisen verzichten und ihre Ferien in der Schweiz verbringen werden. Die grosse Mehrheit der Bevölkerung aber ist dazu kaum bereit. Die Zertifikatspflicht auf Reisen wird womöglich die Impfbereitschaft noch stärker ankurbeln als die Abschaffung der kostenlosen Tests.
«Ungeimpfte müssen sich darauf einstellen, dass sie benachteiligt werden», heisst es im Kommentar von «CH Media». Die Abschaffung der Gratistests sei ein wesentlicher Schritt dahin. «Das ist rational. Nur soll der Bundesrat so ehrlich sein und sagen, was ist.» Also echten Klartext sprechen. Und nicht eine Normalisierung vorgaukeln, die keine ist.
Nicht nur, dass Ungeimpfte unnötig Intensivplätze belegen werden, sie sind auch ansteckender als kranke Geimpfte und sorgen dafür, dass das Virus weiterhin zirkuliert. Darunter leidet nicht zuletzt die geimpfte Risikogruppe, die von Impfdurchbrüchen verstärkt betroffen ist.
Aber auch für alle anderen ist es mühsam, wenn immer noch Massnahmen aufrechterhalten werden müssen, nur damit Ungeimpfte nicht die Intensivstationen verstopfen.
Wie man damit umgehen soll, weiss ich auch nicht. Aber ich nerve mich schon sehr über soviel Egoismus.
Wie wärs denn mit einem konstruktiven Vorschlag statt einfach nur zu „analysieren“ (aka kritisieren)? 🤔