Im Aargau drücken Schülerinnen und Schüler bereits seit dieser Woche wieder die Schulbank, nächste Woche folgen 17 weitere Kantone. Einheitliche Schutzkonzepte gibt es aber nicht. In jedem Kanton gibt es andere Regeln.
So gilt beispielsweise nur im Jura und in Neuenburg eine Maskenpflicht an der Oberstufe. Zwölf Kantone wollen Coronatests an den Schulen durchführen, vier Kantone nicht. Die restlichen Kantone, darunter auch Zürich oder die Waadt, sind noch unentschlossen.
Die laschen Regeln von Bund und Kantonen sorgen für einigen Unmut. So schreibt zum Beispiel die Virologin Isabella Eckerle auf Twitter, dass es Massnahmen brauche, um ein hohes Infektionsgeschehen an Schulen zu verhindern. Ansonsten drohen erneute Einschränkungen im Schulbetrieb sowie vermehrte Quarantänen, die wiederum zu einer Belastung für Eltern und Kindern führen. Auch warnt die Wissenschaftlerin vor Long Covid bei Kindern.
Hohes Infektionsgeschehen an Schulen/Einrichtungen wird zwangsläufig zu Isolation/Quarantäne führen, damit zu Einschränkungen im Schulbetrieb sowie erneut Belastung von Eltern (selbst wenn diese geimpft sind) & Kindern 2/n
— Isabella Eckerle (@EckerleIsabella) August 3, 2021
Dominique de Quervain, Professor für kognitive Neurowissenschaften an der Universität Basel, bläst ins gleiche Horn. Er schreibt in einem Tweet, dass mit den nicht vorhandenen Massnahmen an Schulen eine Durchseuchung der Kinder in Kauf genommen wird. Dies würde zu zehntausenden Fällen von Long Covid und hunderten Fällen des gefährlichen multisystemischen inflammatorischen Syndroms (PIMS) führen.
In vielen Schulen geht es nach den Sommerferien los - ohne Masken, ohne Testen, ohne Luftfilter. So wird eine Durchseuchung der Kinder in Kauf genommen. Wieso dies nicht unproblematisch ist – ein Thread (1/5)
— Dominique de Quervain (@quervain_de) August 8, 2021
Wie hoch das Risiko von Long Covid bei Kindern wirklich ist, ist umstritten. Die Studienlage dazu ist noch dünn. Klar ist jedoch: Selbst bei der niedrigsten angenommenen Zahl wären es bei einer Durchseuchung aller Kinder der Schweiz zehntausende Fälle.
Eine Umfrage aus Grossbritannien ergab, dass zwischen 10 und 15 Prozent der befragten Kinder und Jugendlichen auch fünf Wochen nach der Infektion noch mindestens unter einem Symptom litten. Eine andere Studie aus Italien gab an, dass nur 10 Prozent der teilnehmenden Kinder nach sieben Monaten wieder so aktiv waren wie vor der Erkrankung.
Eine Analyse der «Ciao-Corona»-Studie der Universität Zürich kam zu einem ganz anderen Ergebnis. Lediglich zwei Prozent der untersuchten Kinder sollen demnach an Long Covid erkranken. Eine weitere britische Studie kommt auf knapp fünf Prozent.
Man sieht: Vieles ist noch unklar. Die Studien sind meist noch nicht peer-reviewed, die Ergebnisse sind teils inkonsistent oder es fehlen Kontrollgruppen.
Ein Grund dafür dürfte die schwierige Diagnostik sein. Bei Long Covid handelt es sich um eine diffuse Symptomatik, es gibt keine genau definierten Diagnosekriterien. «Es gibt keinen einfachen Test, den wir machen können und der uns ein positives oder negatives Ergebnis zu Long Covid liefert», sagt Alexander Möller, leitender Arzt in der Pneumologie am Kinderspital Zürich.
Möller führt Abklärungen für Long Covid bei Kindern durch und kann aus der Praxis berichten. Bisher sei nur bei wenigen Kindern tatsächlich Long Covid diagnostiziert worden. «In den Kinderkliniken Luzern, Winterthur und Zürich waren es bis jetzt insgesamt 25 Jugendliche in einer Zeitspanne von vier Monaten.» Dabei waren alle Patientinnen mindestens 14 Jahre alt.
Ein Massenphänomen sei es also nicht, «für die Betroffenen ist es allerdings eine sehr schwere Krankheit». Er habe Patienten betreut, die «sehr stark betroffen» waren, nicht mehr zur Schule konnten, keinen Schlaf mehr gefunden haben. «Denen geht es wirklich schlecht», sagt Möller. Aus diesem Grund schätzt er auch die Dunkelziffer als nicht allzu hoch ein.
Für Möller sei dies aber möglicherweise erst der Anfang. Er ist sich «sehr sicher», dass es mit dem Schulstart und den laschen Schutzkonzepten zu einer erneuten Infektionswelle kommen wird. Die Kinder würden sich vermehrt mit der ansteckenderen Delta-Variante infizieren. Dies werde auch zu weiteren Long-Covid-Fällen führen.
Gestützt auf die «Ciao-Corona»-Studie der Universität Zürich geht die wissenschaftliche Corona-Taskforce des Bundes davon aus, dass bereits jetzt zwischen 5000 und 10'000 Kinder unter 12 Jahren von Long Covid betroffen sind. Sie definiert die Krankheit als «mindestens ein persistierendes Symptom drei Monate nach einer Infektion mit SARS-CoV-2.» Falls die Jüngsten sich auch in Zukunft nicht impfen lassen könnten und sich das Virus ungehindert in Schulen verbreiten kann, rechnet die Taskforce mit bis zu 15'000 weiteren Fällen.
Wo genau diese Fälle sein sollen, kann Alexander Möller nicht erklären. Aber auch er ist für eine Weiterführung der Massnahmen in den Schulen. Einerseits zum Schutz der Kinder, andererseits zum Schutz aller Menschen, die sich aufgrund eines supprimierten Immunsystems nicht impfen lassen können. Das sind immerhin rund 200'000 Menschen in der Schweiz.
Um das Infektionsgeschehen an den Schulen unter Kontrolle zu halten, ist neben Massnahmen wie Maskentragen oder Massentests nun auch das Impfen eine Option. Kinder ab 12 Jahren dürfen sich mittlerweile impfen lassen, der Kanton Aargau hat als erstes angekündigt, mit mobilen Einheiten «die Impfquote verbessern» zu wollen.
Ob andere Kantone folgen werden, wird sich zeigen. Pneumologe Möller würde es befürworten: «Es gibt keinen Grund auf dieser Welt, ein Kind nicht zu impfen.» Die bisher geimpften über 12-Jährigen hätten das Vakzin hervorragend vertragen. «Die Impfung ist eine sichere Massnahme, darüber muss man nicht gross diskutieren». Sobald die Impfung für jüngere Kinder zugelassen wird, würde er dementsprechend auch diesen den Piks verpassen.
Ich wünsche es niemand zu. Sei schlau, lass dich impfen.