Eigentlich waren sich alle einig. Die Parlamentarierinnen und Parlamentarier von SVP bis Grüne, der Bundesrat, Bauern-, Tourismus-, Naturschutz- und Umweltverbände, die Stromkonzerne. Dem neuen «Bundesgesetz über eine sichere Stromversorgung mit erneuerbaren Energien» hätte nichts mehr im Wege stehen müssen.
Doch dann ergriffen Natur- und Landschaftsschützer erfolgreich das Referendum und die SVP beschloss die Nein-Parole gegen das Stromgesetz. Ein Entscheid gegen ihren eigenen Bundesrat und Vorsteher des Departements für Umwelt, Albert Rösti, der sich für das Stromgesetz ausspricht.
Kritik am Stromgesetz, über das wir am 9. Juni abstimmen werden, gibt es darum von zwei Seiten. watson hat die unterschiedlichen Argumente der Gegnerinnen und Gegner zusammengefasst und sie mit dem ETH-Professor für Klimaforschung, Reto Knutti, einem Faktencheck unterzogen.
«Hier stellt sich die Frage, was ist mit ‹Natur› gemeint?», sagt Knutti. Unter Natur könne man nämlich zwei Dinge verstehen: einerseits unsere Biodiversität, andererseits die Ästhetik unserer Landschaft.
Punkto Biodiversität sagt Knutti klar:
Und gerade gegen Letzteren würde das Stromgesetz vorgehen, indem es den Bau erneuerbarer Energieträger fördere und vereinfache. Mit dem Ziel, die fossilen Energien zu ersetzen, die massgeblich die Klimaerwärmung befeuerten.
«Aber natürlich greifen wir mit dem Bau eines Solarparks in gewisser Weise in die Natur ein», sagt Knutti. Das sei nicht zu vermeiden. Der Mensch verursache mit jedem Ausbau und Bau von Infrastruktur in irgendeiner Weise Schäden an der Umwelt.
Das Stromgesetz sehe vor, dass etwa 80 Prozent der Installationen von erneuerbaren Stromanlagen auf bestehender Infrastruktur entstehe. Also beispielsweise Solarpanels auf den Dächern grosser Gebäude oder an Staumauern. Eine Ausgangslage, mit der sich auch die Interessenvertreter im Tourismus sowie der Bauernverband einverstanden erklären konnten.
Was ist jedoch mit den anderen 20 Prozent der vorgesehenen neuen Stromlieferanten? Werden diese in unseren Naturschutz- und Naherholungsgebieten erbaut, so wie das die Gegnerinnen und Gegner behaupten? Das wäre bis zu einem gewissen Grad, also wenn ein Projekt von nationalem Interesse ist, möglich, so Knutti. Aber:
Auf zahlreichen Plakaten macht die SVP Stimmung gegen den «Windkraft-Zwang», der das Stromgesetz bedeuten würde. Sie stört sich nämlich vor allem daran, dass der Bund den Bau von Stromanlagen in gewissen Fällen als «von nationalem Interesse» ausweisen kann, wodurch die Hürden für Einsprachen gesteigert würden.
Aus Sicht der SVP nimmt das Stromgesetz den Gemeinden, auf deren Gebiet ein Windpark oder eine Solaranlage erbaut werden sollte, so das Mitspracherecht. Wie Nationalrätin Magdalena Martullo-Blocher in der SVP-Zeitung schreibt: «Die Kantone müssen die Anlagen sogar mittels Enteignungen durchsetzen. [...] Wir haben keine Rechte mehr.»
Klimaforscher Knutti sagt:
Ausgerechnet von einem Windpark-Zwang zu sprechen, sei weit von der Realität entfernt. Das Stromgesetz priorisiere Solar- und Wasserkraft. Windenergie sei zwar darin inkludiert, gegen den Willen der Bevölkerung seien Windparks aber dennoch nicht möglich. Eben weil Einsprachen und Abstimmungen in den Gemeinden über solche Projekte weiterhin möglich wären.
Was sich mit dem Stromgesetz aber ändere: «Es kann nur noch einmalig Einsprache erhoben werden und nicht immer und immer wieder vor unterschiedlichen Gerichten, wenn eine Vorinstanz die Einsprache abgelehnt hat», sagt Knutti. So würde sich das Verfahren beschleunigen, was schliesslich auch das Ziel des Stromgesetzes sei.
Diesen Vorwurf hört man sowohl von der SVP als auch vom «Naturkomitee», das sich gegen das Stromgesetz einsetzt. Landschafts- und Umweltschützer schlagen als bessere Alternative vor: Die Schweiz muss einfach ihr Potenzial von Solarpanels auf Hausdächern ausnutzen.
«Ja, dass wir das Potenzial unserer Hausdächer nicht voll ausnutzen, ist eine Tatsache», sagt Knutti. Doch Solarpanels auf den Hausdächern würden eine Strommangellage nicht verhindern können. «Gerade, weil im Flachland, wo sich die meisten Gebäude befinden, im Winter wenig Sonne scheint, braucht es auch Solaranlagen im hochalpinen Raum.»
Komme hinzu, dass das Parlament 2023 eine Solarpflicht für bestehende Gebäude abgelehnt habe. Im Stromgesetz schafften es die Parteien deshalb einzig, sich auf eine Pflicht für neue und bestehende Gebäude mit einer Fläche von über 300 m² zu einigen.
Die von der SVP immer wieder in den Ring geworfene Alternative lautet indes: AKWs. Obwohl das Stimmvolk sich 2017 für ein Neubauverbot von Kernkraftwerken ausgesprochen hat und obwohl die Frage darum, wo der von AKWs produzierte Atommüll entsorgt werden soll, 2022 grosse Ängste auslöste, weil keine Gemeinde dazu auserkoren werden wollte.
Ungeachtet dieser Probleme, die AKWs abermals mit sich bringen würden, haben Kernkraftwerke für Knutti in der Diskussion rund ums Stromgesetz grundsätzlich nichts zu suchen. Denn: «Wir brauchen so schnell wie möglich mehr selbst produzierten Strom.» Der Bau eines AKWs dauere allerdings mindestens 20 Jahre. «Würden wir auf AKWs setzen, würde sich unsere Versorgungssicherheit mindestens für die nächsten 20 Jahre nicht verbessern.»
Die SVP wirbt mit Nationalrat Thomas Aeschi für ein «NEIN zur Verschandelung der Natur». Und das «Naturkomitee» warnt auf seiner Website, dass mit dem Stromgesetz «unsere weltberühmten Landschaften wie die Rigi, die Berner Alpen oder der Chasseral der Stromproduktion zum Opfer fallen» könnten.
Dass diese Schreckensszenarien eintreten könnten, ist gemäss Knutti zwar theoretisch möglich, in der Praxis aber höchst unwahrscheinlich:
Damit die Rigi mit Windkraftwerken «zugebaut» werden könnte, müssten dies der Kanton Luzern sowie die lokale Bevölkerung explizit wollen. Ein Zwang besteht also nicht. Knutti wiederholt: «Das Stromgesetz legt in keiner Weise fest, wo welche Stromanlagen gebaut werden müssen.»
«Das kann tatsächlich sein. Wir können nicht in die Zukunft sehen», sagt Knutti. Es werde sich zeigen müssen, ob das Stromgesetz für ausreichend selbstproduzierte Energie sorgen könne. Doch:
Würde das Schweizer Stromnetz zusammenbrechen, uns der Strom ausgehen, hätte dies schwerwiegende Konsequenzen. «Ein Blackout würde die Schweiz pro Tag mehrere Milliarden Franken kosten. Ganz zu schweigen von Menschenleben, wenn man nur schon an unsere Spitäler denkt», sagt Knutti.
Denn: Sowohl Wind- als auch Sonnenenergie sind vom Wetter und der Jahreszeit abhängig. Die Sorge von Martullo-Blocher von der SVP darum: «Bei schwachem Wind und wenig Sonne geht uns der Strom aus.» Knutti widerspricht nicht grundsätzlich:
Damit diese Risiken ausbalanciert werden könnten, brauche es weitere Massnahmen. Etwa eine starke Integration ins europäische Stromnetz, damit die Schweiz im Notfall auf Strom aus den Nachbarländern zurückgreifen kann oder umgekehrt: anderen Ländern aushelfen kann, wenn sie selbst einen Überschuss hat. Auch eine Option sei die Nutzung von Batterien, zusätzlich zu den Stauseen, um Strom zu speichern, den wir in den Wintermonaten anzapfen könnten.
All diese weiterführenden Bedingungen beinhaltet das Stromgesetz allerdings nicht. Und das ist auch nicht schlimm, findet Knutti:
«Ja, für die Energiewende braucht es Investitionen», sagt Knutti. Einige davon seien für Stromkonzerne aber weder attraktiv noch tragbar. Bund und Banken könnten diese Kosten hingegen stemmen.
Knutti sieht in der Nutzung von öffentlichen Geldern für die Energiewende keinen Unterschied zu anderen Investitionen in kritische Infrastruktur, die der Bund tätigt. Etwa in Autobahnen, das Militär, Schulen, Universitäten und Spitäler. Der Klimaforscher sagt:
Würden wir nichts unternehmen, würde es einfach später teurer. Wegen Klimaschäden, Blackouts oder eben Anhängigkeit vom Ausland. «Milliardengewinne machen Stromkonzerne dank der Investitionen des Bundes trotzdem nicht.»
«Das ist eine steile These. Wir können nicht wissen, wie sich die Energiepreise entwickeln werden, und das Stromgesetz macht auch keinerlei Angaben dazu», sagt Knutti. Die nahe Vergangenheit habe allerdings gezeigt, dass die Preise für Energie vor allem dann steigen, wenn die Schweiz von fossilen Energien wie Öl und Gas – endlichen Gütern – aus dem Ausland abhängig ist. «Eine Strommangellage drohte, weil Russland den Gashahn zudrehte.»
Für den Klimaforscher ist darum klar, dass es bei der Diskussion um das Stromgesetz nicht nur um klimapolitische, sondern ebenso um geopolitische Fragen geht.
«Tatsache ist: Irgendwie braucht die Schweiz Energie. Die Frage ist also nicht, ob wir etwas unternehmen, sondern wie und wo.» Das Wie beantwortet das neue Stromgesetz. Um das Wo werden sich bei einer Annahme die Kantone und Gemeinden kümmern.
Die SVP will die Kernenergie mit Uranimport aus dem Ausland und Entsorgung des Abfalls in der Schweiz.
Diesen Vorwurf hört man sowohl von der SVP als auch vom «Naturkomitee», das sich gegen das Stromgesetz einsetzt.“
AKWs ist die einzige Alternative, die man von der SVP zu hören bekommt. Ansonsten Stimmung machen gegen alle Vernunft. Und wenn die Situation aus dem Ruder läuft, sind natürlich wieder die Linken und Grünen