Vor einem Jahr fand sich Y. S., Sicherheitsassistent bei der Basler Polizei, plötzlich auf der anderen Seite. Es war ein Donnerstag im April. Der türkischstämmige Basler sass in einem internen Weiterbildungskurs, als ihm der Kursleiter vor der Mittagspause ein Zeichen gab. Es sehe nicht gut für ihn aus. Kurz darauf musste Y. S. seine Schlüssel und seinen Dienstausweis aushändigen. Er war per sofort von der Arbeit suspendiert, Kollegen verhafteten ihn.
Zu diesem Zeitpunkt sorgte sein Fall bereits seit Tagen landesweit für Schlagzeilen. Der Auslöser war ein Bericht in der «Basler Zeitung» (BaZ). Darin wurde Y. S. als «Erdogan-Spitzel» verdächtigt. Er soll die Daten einer türkischstämmigen Person im Polizeisystem abgefragt und sie an eine Lobby-Organisation weitergegeben haben, die dem umstrittenen Präsidenten Erdogan nahe steht. Ein Verdacht, der sich nicht bestätigte. Dies gab die Basler Staatsanwaltschaft Monate später, im Juli, bekannt.
Da war es bereits zu spät: In der öffentlichen Wahrnehmung gab es in Basel einen Spitzel. Politiker von links bis rechts hatten Vorstösse eingereicht. Und die Behörden mussten sich zumindest die Frage gefallen lassen, wie sie mit ihrem Vorpreschen die öffentliche Meinung zementierten. So richteten sie noch während den laufenden Untersuchungen eine E-Mail-Adresse ein. Über diese konnten sich potenzielle Spitzelopfer melden. Diese Anlaufstelle diente vielen als Beweis für die Existenz eines Spions.
Y. S. hatte bislang geschwiegen. Der Mann hinter den Initialen vermied jeglichen Kontakt zu den Medien. Exklusiv spricht er mit der «Nordwestschweiz» darüber, wie die falsche Spitzel-Geschichte sein Leben veränderte.
Wir treffen Y. S. bei seinem Anwalt. Er ist angespannt, schwankt zwischen Skepsis und Vorsicht. Ein Mann Ende der 30er. Schwarzer Pullover, Jeans. Ein Aktenordner vor sich, gefüllt mit Zeitungsartikeln, Dokumenten. Er sieht älter und verbrauchter aus, als auf den Fotos, die er vor knapp eineinhalb Jahren auf den sozialen Netzwerken postete. Das Gesicht aufgequollen, der Blick flackernd. Er beginnt zu erzählen:
Vor einem Jahr hat sich mein Leben in wenigen Tagen komplett verändert. Beruflich wie privat. Meine Familie, meine Partnerin und die engsten Freunde stehen zwar nach wie vor hinter mir. Das restliche Umfeld hat sich aber abgewandt. Auch Menschen, die mich seit Jahrzehnten kennen. Treffe ich zufällig einen alten Bekannten, spüre ich das Misstrauen schon bei der Begrüssung.
Heute noch?
Ja, dass die Staatsanwaltschaft mich vom Vorwurf der Spionage freigesprochen hat, spielt keine Rolle. Der Spion bleibt an mir haften, ich bin abgestempelt. Bis heute meide ich deshalb Örtlichkeiten, an denen sich viele Menschen aufhalten. Ich will nicht, dass sich jemand durch meine Anwesenheit provoziert fühlt oder gar das Gefühl hat, sich beweisen zu müssen. Im Sinne von: «Jetzt zeigen wir es dem Spion.» Eine solche Situation eskaliert schnell.
Wurden Sie bedroht?
Indirekt. Es wurde mir «geraten», den Kanton oder gar das Land zu verlassen. Solche Nachrichten kamen nicht auf persönlichem Weg zu mir. Sondern Freunde von mir wurden beauftragt, sie mir zu übermitteln.
Haben Sie darüber nachgedacht, Basel zu verlassen?
Nur als Gedankenspiel. Manchmal denke ich, ein Wegzug wäre das Beste. Aber es käme mir vor, als würde ich aufgeben, den Kopf in den Sand stecken. Ich bin in Basel geboren und aufgewachsen. Ich bin hier verwurzelt. Zudem würden sich meine gesundheitlichen Probleme dadurch wohl kaum lösen. Seit einem Jahr leide ich an Schlafstörungen. Einige Bilder gehen mir nicht mehr aus dem Kopf. Etwa das meines Vaters. Auch ihn belastet die Geschichte stark. Kurz nachdem er davon erfahren hatte, platzte ein Blutgefäss und riss seine Lippen auf. Ein Arzt sagte ihm, das sei stressbedingt. Ich habe meinen Vater noch nie in solch einer Verfassung gesehen. Ich wusste nicht, wie damit umgehen.
Haben Sie sich psychologische Hilfe geholt?
Ja, aber ich musste lange suchen. Wenn ich Psychotherapeuten anrief, fragten sie mich, was mein Thema sei. Erklärte ich ihnen, ich sei Y. S. und würde der Spionage verdächtigt, hiess es jeweils: Terminlich sehe es schwierig aus. Eine Sitzung sei frühestens in einigen Monaten möglich.
Der Fall von Y. S. ist komplex. Medien, Politik und Behörden wiegelten sich nach dem ersten Zeitungsartikel gegenseitig auf. Die Empörungswelle erfasste sie gleichermassen. Falschmeldungen wurden verbreitet: Y. S. in die Nähe der Terrorgruppe IS gerückt, des Velodiebstahls und der Hehlerei beschuldigt. Dennoch wäre es zu einfach, die Geschichte mit medialer Sensationsgier und amtlicher Überforderung zu erklären. Denn die Figur Y. S. als vermeintlicher Erdogan-Spitzel passte perfekt in die damals aufgeladene Stimmung.
Ab Sommer 2016 riss der gescheiterte Putschversuch in der Türkei auch in die hiesige Diaspora tiefe Gräben. Erdogan-Unterstützer, Kurden, Gülen-Anhänger: Die Lager standen sich in der Schweiz unversöhnlich gegenüber. In sozialen Netzwerken wurde beschimpft, beleidigt, gehetzt. Anfang 2017 gab es Hinweise, dass im Umfeld der hiesigen türkischen Gemeinden Spionage verübt worden sei. Das verunsicherte Erdogan-Kritiker tief. Ihre Ängste nahmen zu, als türkische Behörden mindestens drei Basler Kurden in Istanbul festnahmen. Sie berichteten, dass ihnen ihre Kritik an Erdogan auf Facebook zum Verhängnis wurde.
Auch Y. S. war auf den sozialen Netzwerken aktiv. Er gab sich dort als begeisterter Anhänger Erdogans zu erkennen. Zu begeistert, befand der Schweizer Nachrichtendienst – und meldete dies den zuständigen kantonalen Behörden. Sie stuften seine Äusserungen als «unvereinbar» mit seinem Job als Sicherheitsassistent ein. Auch die Polizei als Arbeitgeber wurde informiert.Nach seiner kurzzeitigen Festnahme drang diese Vorgeschichte tröpfchenweise an die Öffentlichkeit – und nährte die Spitzel-These. Dabei gingen aber zwei Fakten unter: Vor dem «BaZ»-Artikel hatten die Behörden monatelang keine Handhabe für personalrechtliche Konsequenzen gesehen. Und nachdem der Spionage-Vorwurf medial lanciert war, nahm sich die Bundesanwaltschaft des Falles nicht an. Hätte es konkrete Hinweise gegeben, wäre dies ihre Pflicht gewesen.
Wie sicher sich Y. S. seiner Sache war, zeigte sich an seiner ersten Reaktion:
Es war ein Samstagmorgen, ich war soeben mit meiner Freundin aus den Ferien zurückgekehrt. Ein Freund rief mich an und sagte: «Du bist in der Zeitung. Es ist schlimm.» Ich fuhr sofort zum Polizeiposten in Riehen, zu meinem Arbeitsplatz. Da liegen immer die aktuellen Zeitungen. Als ich den Artikel las, war ich schockiert – und rief meinen Chef an.
Die Geschichte drehte monatelang weiter. Haben Sie die Berichterstattung verfolgt?
Am Anfang, doch dann bekam ich Angst. IS, Velo-Hehlerei – was würde als Nächstes kommen? Solche Anschuldigungen waren stets aufs Neue ein Schock für mich. Sie trafen mich unvorbereitet – auch wenn die Inhalte teils absurd und widersprüchlich waren. Ein Journalist hat mich beispielsweise im ersten Artikel als Clubgänger beschrieben, der gerne Drinks in die Kamera hält. Kurz darauf rückte er mit einem vermeintlichen IS-Glaubensbekenntnis heraus. Das war lächerlich. Welcher IS-Anhänger würde in Clubs Cocktails trinken?
In den sozialen Medien haben Sie vorgängig auch ausgeteilt. Etwa als Sie dazu aufriefen, Gülen-Anhänger zu melden.
Das wurde aus dem Kontext gerissen. Ich habe das nicht wörtlich gemeint. Das Gülen-Netzwerk ist in der Türkei als Terrorgruppe eingestuft. Sie waren massgeblich am Putsch beteiligt, bei dem Menschen starben. Ich bin der Meinung, dass Verantwortliche für ihr Handeln geradestehen müssen. In der Türkei wie in der Schweiz.
Sie sehen kein Problem in Ihren Einträgen?
Nein, ich habe nichts Verbotenes gemacht. Es ist doch nicht illegal, wenn ich mich als türkischer Staatsbürger öffentlich zu Erdogan bekenne. Könnte ich in der Schweiz abstimmen, würde ich dasselbe tun und jene Partei offen unterstützen, die mir politisch am nächsten ist. Wo liegt das Problem?
Der Fall Y. S. ist bis heute nicht abgeschlossen. Bei den Untersuchungen wurden seine Logins angeschaut. 3000 Personenabfragen. 162 davon soll Y. S. ohne dienstlichen Auftrag gemacht haben. Das wirft ihm die Basler Staatsanwaltschaft vor. Für den mutmasslichen Amtsmissbrauch beantragt sie eine Busse von 1800 Franken. Dazu die Verfahrenskosten von über 11 000 Franken. Y. S. weist den Vorwurf vollständig von sich. Weil er sich gegen die Strafe wehrt, kommt sein Fall nächste Woche vor Gericht. Y. S. hofft, wieder zur Polizei zurückkehren zu können. Zurück auf die richtige Seite.