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Die Frau am Telefon tönt aufgeregt: «Sie müssen zu mir kommen, mein Mann hat alles gebrochen.» Ihr Mann, das ist Zeljko B., 30-Jährig, Vater einer gemeinsamen Tochter, serbischer Staatsangehöriger – und depressiv (...). An diesem Montagabend, kurz vor 20 Uhr, randaliert B. in der gemeinsamen Wohnung in Wohlen. Er ist betrunken, wie er gemäss seiner Ehefrau schon so manches Mal war. Aber jetzt ist es anders. Jetzt hat B., die Ehefrau, Angst, dass sich Zeljko B. etwas antut, sich selber verletzt – oder schlimmer.
Bei der Notrufzentrale des Postens Aarau wird registriert: Häusliche Gewalt, Alkoholkonsum, keine Gefahr für Frau und Kind. Ein Fall, wie er sich täglich dutzende Male in der Schweiz ereignet. Ein Fall für einen Streifenpolizisten; wenn es brenzlig wird, kommt vielleicht ein psychologisch ausgebildeter Verhandler zum Einsatz.
Nicht so in Wohlen, an diesem Abend im Mai 2009. Nicht einmal zwei Stunden nach dem Notruf liegt Zeljko B. in seiner Wohnung am Boden, zwei Projektile der Marke Luger Action 4 stecken in der rechten Seitenwand des 4. Lendenwirbels, eine Tasernadel in seinem Rücken.
Zeljko B. überlebt die Schussverletzungen. Den Tritt findet er aber nicht mehr: Mehrmonatige Rehabilitationsaufenthalte, wiederkehrende Rückenschmerzen, posttraumatische Belastungsstörungen und depressive Verstimmungen sind die Folgeerscheinungen, an eine Rückkehr ins Arbeitsleben ist nicht zu denken. 2015, sechs Jahre nach dem verhängnisvollen Maiabend, verstirbt B. Der Tod, so stellen Gerichtsmediziner fest, steht in keinem Zusammenhang mit den erlittenen Schussverletzungen.
Sieben Jahre später stehen der Waffenschütze A., der Leiter der Sondereinheit, H., und der diensthabende Offizier S. vor dem Bezirksgericht Bremgarten. Ihnen werden versuchte vorsätzliche Tötung (Waffenschütze), vorsätzliche schwere Körperverletzung (Waffenschütze, Gruppenleiter und Offizier) sowie Amtsmissbrauch (Offizier) zur Last gelegt. Die Angeklagten bestreiten die Anschuldigungen, es gilt die Unschuldsvermutung.
Wie konnte es dazu kommen, dass aus einem Routine-Einsatz ein Fall für eine Sondereinheit wird? Welche Bedrohung geht für ein hochtrainiertes, gut ausgerüstetes Sondereinheit-Mitglied von mit einem Küchenmesser bewaffneten Mann aus?
Auszüge aus dem Funkverkehr, die watson vorliegen, zeigen, dass einzelne der Polizisten überfordert, die Kommunikationsstrukturen ungenügend und die Befehlsketten nicht immer klar waren. Das Gutachten eines ausgewiesenen Experten stützt diese Einschätzung.
Nachdem die Notrufzentrale den Anruf von Frau S. entgegengenommen hat, sendet sie einen Beamten der Regionalpolizei (Repol) aus, um nach dem Rechten zu sehen. Frau S. hält sich zu diesem Zeitpunkt mit ihrem Kind in der Wohnung einer Nachbarin auf, von dort hatte sie auch die Kapo benachrichtigt. Gefahr besteht für die Frau keine. Ohnehin erklärte S. später gemäss Schlussbericht des ausserordentlichen Staatsanwaltes, sie hätte angerufen, «nicht weil ich vor meinem Mann Angst hatte, sondern weil ich ihn vor sich selbst schützen wollte [...]».
Der Regionalpolizist P. der Kapo Aargau begibt sich kurz nach 20 Uhr zusammen mit der Ehefrau und dem Kleinkind zu B. Vor der Wohnung der Eheleute, in einem mehrstöckigen Betonbau, zwischen Tennisplatz und Schwimmbad gelegen, versuchen sie, Zeljko B. zum Öffnen der Tür zu bewegen. Als sich P. als Polizist zu erkennen gibt, reisst Zeljko B. die Tür auf. Er hält ein Messer in der Hand, das er gegen den P. richtet. P. zieht erschrocken die Pistole und fordert den betrunkenen Zeljko B. auf, das Messer niederzulegen. Dieser dreht das Messer um, richtet es gegen seine eigene Brust. «Schiess doch», ruft er dem verdutzten Polizisten zu, bevor er die Türe mit dem Fuss ruckartig zuschlägt.
P. fordert per Funk Verstärkung an. Im Minutentakt treffen weitere Polizeikräfte ein, das Gebiet wird grossräumig abgeriegelt, Schaulustige hinter Absperrbänder zurückgedrängt. Ein «Volksauflauf», wie der zuständige Offizier später wiederholt feststellen sollte.
Für den Einsatzleiter ist klar, diese Sache ist eine «Stufe zu grob» für einen Streifenpolizisten. SE Argus soll her, die Eliteeinheit, die üblicherweise bei Interventionen gegen Drogenhändler, bewaffnete Straftäter oder Razzien gegen das organisierte Verbrechen aufgeboten wird. Die Kantonspolizei Aargau, der Argus angegliedert ist, schreibt auf ihrer Website «Wenn es nichts mehr zu diskutieren gibt, kommt die Sondereinheit ‹ARGUS› zum Einsatz.» Für den Pikettoffizier S., der später hinzukommt, ist klar: Zu diskutieren gibt es nichts mehr, Zeljko B. muss aus der Wohnung geholt werden, notfalls mit Gewalt.
Kurz nach 21 Uhr erstattet Pikettoffizier S. der Einsatzzentrale Bericht. S. hat als Offizier die Befehlsgewalt vor Ort. Er folgt der Einschätzung seiner Kollegen, dass die Sondereinheit hinzuzuziehen sei. «Der [Zeljko B.] ist alleine in der Wohnung, sturzbetrunken. Jetzt war er gerade wieder auf dem Balkon, mit einem Messer.» S. ist nicht gewillt, «dieses Spielchen bis zum geht-nicht-mehr durchzuziehen», man habe hier einen Volksauflauf und er, S. , hätte an und für sich gerne, dass die SE hier reingehe: «Punkt, Schluss.»
Zeljko B. bewegt sich zu diesem Zeitpunkt zwischen dem Balkon und der Wohnung hin und her. Er hantiert mit einem Messer, schreit, dass er mit seiner Frau telefonieren möchte. Sein bester Freund und Arbeitskollege, F., versucht, ihm gut zuzureden. Auf Serbisch und Deutsch beschwört er ihn, vom Balkon herunterzukommen. Für den Pikettoffizier S., das machen die Funksprüche deutlich, ein zweckloses Unterfangen. Das Objekt sei nicht ansprechbar, stockbetrunken und aggressiv. Sein Freund F. wird zurückgepfiffen, nicht, dass ihm auch noch etwas zustösst.
Eine Sprungmatte oder ähnliche Sicherheitsvorkehrungen für den Fall, dass der betrunkene Zeljko B. stürzen sollte, sind nicht vorhanden. Die Sanität, eigentlich als reine Vorsichtsmassnahme in der Nähe postiert, sollte erst später zum Einsatz kommen.
Der zaghafte Versuch des SE-Gruppenleiters H., Alternativen zum Einsatz der Sondereinheit auszuloten, wird vom Pikettoffizier S. abgeschmettert. Auf die Frage, ob denn wirklich die SE intervenieren müsse, antwortet S. bestimmt: «Den müssen wir abräumen, wir können hier nicht während vier Stunden Gugus machen.»
Was der Pikettoffizier S. «Gugus machen» nennt, hätte geheissen, die gespannte Situation gewaltfrei zu lösen. Der Schlussbericht der Anklageschrift gegen die beteiligten Polizisten hält die Alternativen fest, die zu prüfen gewesen wären:
Markus Mohler, Lehrbeauftragter für Sicherheits- und Polizeirecht an der HSG und langjähriger Polizeikommandant der Kapo Basel, betont in einem externen Gutachten, dass selbst bei schwersten Delikten der Versuch von Verhandlungen durch qualifizierte Verhandlungsführer vor einem Zugriff zu den standardisierten Verfahrensabläufen gehöre. Zeljko B. war kein schwerer Straftäter: Der gebürtige Serbe hatte abgesehen von einer Vorstrafe wegen Übertretung gegen das Strassenverkehrsgesetz nichts auf dem Kerbholz. Die Vorgeschichte ist den Polizisten bekannt.
Nachdem der diensthabende Offizier S. seinen Vorgesetzten W., stellvertretender Kommandant der Kapo Aargau, ins Bild gesetzt hatte («Aus meiner Sicht eine Situation, die man relativ schnell bereinigen sollte»), sind die letzten Weichen gestellt für den Einsatz der Sondereinheit. Auf Anraten des Vorgesetzten will man noch 20 Minuten versuchen, die Situation «in gutem Einvernehmen» zu bereinigen. Danach müsste man zugreifen, da sind sich die beiden Polizisten einig. Gegen den den Stv. Kapo-Kommandanten W. wird das Verfahren später eingestellt.
Etwa 21.30 Uhr: Sechs Mann der Sondereinheit Argus sind mittlerweile vor Ort, zwei sind vor der Tür der Wohnung von Zeljko B. postiert, Beamte der Kapo beobachten die Situation vom Dach eines gegenüberliegenden Gebäudes. Zeljko B.s Welt ist auf ein Dreieck geschrumpft: Küche, Wohnzimmer, Balkon: Raus kann er nicht. Raus will er auch nicht. Aber die Polizei will, dass Zelkjo B. rauskommt: Warum genau, das ist auch jetzt, sieben Jahre nach dem Einsatz, nicht wirklich klar.
Taser, Schutzweste, Sturmmaske, Helm mit Visier, Pfefferspray, Dienstwaffe der Marke SIG P228: Die Mitglieder der Sondereinheit Argus können auf ein stattliches Arsenal an Waffen und Ausrüstungsgegenständen zugreifen, um «heiklen Interventionen» Herr zu werden. Auf Schilder oder Schutzmatten verzichtet der Gruppenleiter H. aber. Ein Betrunkener mit einem herkömmlichen Küchenmesser, Klingenlänge von etwa zehn Zentimetern, stellte offenbar keine allzu grosse Gefahr für die Angehörigen der Eliteeinheit dar.
Etwa 21.40 Uhr: Der Gruppenleiter der SE, H., funkt an den Pikettoffizier S.: «Wir wären bereit, unser Dispositiv steht. Wenn du das OK gibst, würden wir zugreifen, wenn er sich auf dem Balkon befindet.» S. gibt das OK. Bange Minuten des Wartens vor der Türe. Um 21.45 versuchen die Elite-Polizisten zuerst, die Tür mit dem Schlüssel der Ehefrau zu öffnen, dann greifen sie zur Ramme. Ohne Vorwarnung stürmen sie in die kleine Wohnung der Familie B. Aus dem Funkverkehr lässt sich nur noch eruieren, wie eine Stimme aufgeregt schreit, dann herrscht Stille. 13 Sekunden lang.
Bei der Rekonstruktion des Tathergangs in der Wohnung ist man auf die Aussagen der Beteiligten angewiesen. Gruppenleiter D.H. unterliess es, eine klare Zutrittsreihenfolge zu kommunizieren – ein folgenschweres Versäumnis.
Klar ist wohl, dass A. als erster in die Wohnung eindrang, die Dienstwaffe gezogen. Die mit Pfefferspray und Taser bewaffneten SE-Mitglieder folgten an zweiter und dritter, respektive an dritter und vierter Stelle – die Schilderungen der Beteiligten gehen hier auseinander. Zelkjo B., vermutlich durch das Aufbrechen der Türe aufgeschreckt, bewegte sich vom Balkon ins Innere der Wohnung, bekleidet nur mit einer Unterhose. 1,70 Meter stand B. vom ersten Polizisten A. entfernt, das Messer erhoben, die Warnrufe – «Messer weg, Polizei» – ignorierend, als A. in kurzer Abfolge zweimal den Abzug drückte und B. zwei Kugeln in den Bauch jagte. In Notwehr, wie er bei der Einvernahme geltend machte. Gleichzeitig feuerte ein weiteres SE-Mitglied den Taser ab. B. ging zu Boden.
Zeljko B. alkoholisiert und psychisch ausser Rand und Band, hatte gedroht, seinem Leben ein Ende zu setzen.
Markus Mohler kommt in seinem Gutachten über den Polizeieinsatz zum trockenen Schluss: «Es kann nicht Sinn einer polizeilichen Intervention zur Verhinderung eines Suizids [...] sein, Massnahmen mit potentieller Todesfolge zu wählen, die im Ergebnis zu einer vorhersehbaren schweren Körperverletzung oder Schlimmerem führen können.»
Die Stimmen im Funkverkehr wurden zwecks Anonymisierung der beteiligten Personen verzerrt.
Das Urteil wird am Freitag gefällt.