«Das Perfide an Orthorexie ist, dass sich die Krankheit anschleicht», sagt Lyn.
Als die 35-Jährige, die eigentlich anders heisst, aber anonym bleiben möchte, in ihren Zwanzigern eine Diät nach der anderen ausprobierte, begann sie sich krankhaft mit gesunder Ernährung auseinanderzusetzen. Je mehr sie sich über gesundes Essen informierte, desto mehr schränkte sie ihre Nahrungspalette ein. Ein streng reglementierter Essplan dominierte ihren Alltag während Jahren.
Ständiger Begleiter war die Angst, ihrem Körper mit ungesunden Lebensmitteln Schaden zuzufügen. Dies ging so weit, dass sie sich sozial zurückzog, nur noch püriertes Gemüse ass und aus Haut und Knochen bestand. Nach einer erschreckenden Warnung kämpfte sie sich Kilo für Kilo zurück ins Leben.
Eine Arbeitskollegin von Lyn schwärmt von Fitnesstraining. Unglücklich mit ihrem Körper überlegt sich Lyn mitzugehen. Sie ist Anfang zwanzig, übergewichtig, Sport ist das Letzte, woran sie denkt. Trotzdem überwindet sie sich.
Die Kilos purzeln schnell. Die Komplimente über ihr verlorenes Gewicht treiben sie an, noch mehr zu trainieren. Gleichzeitig informiert sie sich über die Zusammensetzung und Inhaltsstoffe von Lebensmitteln und die Wirkung auf den Körper in Zeitschriften, Büchern, im Internet.
«Fleisch hat schlechte Fette, das glaubte ich damals», sagt Lyn. «Ich las unzählige unwissenschaftliche Ernährungsberichte und strich immer mehr Lebensmittel aus meinem Speiseplan. Fast in jedem Lebensmittel fand ich etwas Schlechtes.»
Die Nahrungspalette schrumpft auf das, was Pflanzen hergeben, also Obst und Gemüse. Selbst in einigen Gemüsesorten findet sie etwas ungesund. Etwas, das ihrem Körper nicht guttun könnte. Etwas, das ihr Blut verklumpen oder Entzündungen auslösen könnte.
Alleine ist Lyn damit nicht. In einer Schweizer Studie aus dem Jahr 2010 gab jede dritte Person an, sich übermässig mit gesundheitsfördernder Ernährung zu beschäftigen, gesunde Lebensmittel zu bevorzugen oder strikte Ernährungsregeln zu befolgen. Offiziell gilt Orthorexie nicht als Essstörung, wird allerdings ähnlich wie andere Essstörungen behandelt. Wie viele Menschen darunter leiden, ist nicht bekannt.
«Gesunde Ernährung ist in unserer Gesellschaft ein grosses Thema und es ist nicht immer einfach zu unterscheiden, ob es sich um eine gesunde, ausgewogene Lebenseinstellung oder um eine Essstörung handelt», sagt Sarah Stidwill, Psychologin und Ernährungsberaterin der Arbeitsgemeinschaft Ess-Störungen (AES), die Menschen mit Essstörungen und Essproblemen unterstützt.
Um ein neues Krankheitsbild handle es sich nicht. «Der Zwang, sich gesund zu ernähren, kann zum Beispiel auch mit einer Bulimie auftreten.» Oftmals komme Orthorexie auch als Mischform vor oder wechsle sich phasenweise mit anderen Essstörungen ab. «Orthorexie kann mit dem Wunsch beginnen, sich gesünder zu ernähren, etwas für die Gesundheit und die Umwelt zu tun. Mit der Zeit kommen immer mehr Regeln dazu, was die Betroffenen mehr und mehr einschränkt.»
Das erlebt auch Lyn.
So streicht sie beispielsweise Nachtschattengewächse wie Tomaten oder Auberginen, weil sie las, dass der Verzehr des Gemüses ihr nicht guttun würde. Kartoffeln enthalten Solanin, einen leicht giftigen Stoff, der Bauchschmerzen und Übelkeit hervorrufen kann. Für Lyn Grund genug, komplett auf die Knolle zu verzichten.
«Übrig blieben dann fast nur noch Brokkoli, Rüebli und Süsskartoffeln, die ich pürierte, weil ich dachte, mein Körper würde die Nährstoffe so besser aufnehmen», erzählt Lyn. «Teilweise liess ich mir auch die wildesten Smoothie-Kreationen pürieren, die ich so heute nicht mehr essen würde, beispielsweise Ananas, Sojamilch mit Thymian.» Manchmal habe sie sich auch erlaubt, etwas angebratenen Tofu zu essen, um doch noch ein wenig Protein zu sich zu nehmen.
Die Energie für Fitness schwindet trotz Mangelernährung nicht. Zumindest redet Lyn sich das ein. «Das, was mich ins Fitnesscenter trieb, war keine Disziplin mehr, sondern eine innere Diktatur. Ich hatte jeweils so wenig Energie, dass ich beim Treppensteigen atmete wie eine Dampfwalze.»
Doch Sport steht genauso auf ihrem Gesundheitsplan wie fixe Zeitpläne: «Ich habe nur zu bestimmten Uhrzeiten gegessen. Zwischen Mittag und Abendessen wollte ich nichts essen, damit sich mein Körper in dieser Zeit erholen kann. Teilweise habe ich auch gefastet. Rückblickend frage ich mich, woher ich die Kraft nahm, morgens überhaupt aus dem Bett zu kommen», sagt Lyn.
Lyn hat fast nichts mehr auf den Rippen, obwohl es ihr nicht darum geht, möglichst dünn, sondern rein zu sein.
«Ich dachte immer, wenn ich etwas esse, das nicht meinen Regeln entspricht, dann vergifte ich mich oder verklebe meine Mitochondrien. Irgendetwas habe ich mir immer zusammenfantasiert», so Lyn.
Lyn kann es zu dieser Zeit innerlich kaum ertragen, wenn jemand ihre Ernährung kritisiert. Auch der Besuch im Restaurant stellt während Jahren für sie eine grosse Belastung dar. «Ich bestellte jeweils nur einen Salat. Am nächsten Tag wollte ich den Salat dann aus mir heraus schwitzen, weil ich Angst hatte, dass sich im Salat etwas befand, das mich krank machen könnte – ein Inhaltsstoff in der Sauce beispielsweise.» Sozial kapselte sie sich immer weiter ab – aus Scham, weil sie sich für ihr Essverhalten schämt.
Eigentlich will sie nichts mehr fühlen. Der übermässige Fokus auf die Kontrolle ihrer Ernährung lenkt sie vor negativen Gefühlen ab.
Dass Betroffene sich sozial zurückziehen und Dinge nicht mehr tun, die sie gerne machen, sei ein wichtiges Merkmal von Orthorexie, sagt die Expertin für Essstörungen, Sarah Stidwill. «Die Gedanken rund um die Ernährung nehmen viel Zeit und Raum ein.»
Im Spiegel nimmt Lyn nicht wahr, dass sie nur noch aus Haut und Knochen besteht. «Ich habe mich als normal gewichtig gesehen – nicht als speziell dünn.»
Lyn wird ohnmächtig, ihr ausgehungerter Körper funktioniert nicht mehr, sie bricht für einen Augenblick zusammen.
Das Erlebnis rüttelt sie wach: «Als ich wieder zu mir kam, wurde mir klar, dass es so nicht weitergeht.»
Wie schlecht es um ihre Gesundheit steht, wird ihr einige Tage später an einer Gesundheitsmesse bewusst, als sie ihre Körperzusammensetzung abmessen lässt. «Man teilte mir mit, dass ich bald an einem Organversagen sterben könnte», erzählt Lyn.
Die Warnung nimmt sie ernst. «Am nächsten Tag bin ich aufgestanden und habe mich dazu gezwungen, alle drei Stunden etwas zu essen. Das habe ich während Wochen durchgezogen, bis ich wieder ein anständiges Gewicht erreichte.»
Lyn merkt, dass ihr Körper genau jene Lebensmittel braucht, die sie so lange in Angst versetzten. Doch alle Lebensmittel wieder in die Ernährung zu inkludieren, gelingt ihr nicht auf Anhieb. «Mit der Zeit habe ich immer mehr Essen zugelassen. Nach ein paar Monaten war ich dann auch so weit, dass ich mich traute, ein Ei zu essen. Ich war so schwach, dass die paar Nährstoffe, die das Ei lieferte, ausreichten, um mir das Gefühl zu geben, dass ich Bäume ausreissen könnte», erzählt Lyn.
Ohne Hilfe kämpft Lyn gegen ihre Krankheit. Auf eine Therapie verzichtet sie aufgrund einer schlechten Erfahrung. «Vor dem Tiefpunkt der Orthorexie habe ich eine Therapie in Anspruch genommen. Doch für mich war diese Erfahrung eher kontraproduktiv. Ich hatte mir eingeredet, ich müsse der Therapeutin beweisen, genug krank für einen Therapieplatz zu sein. So habe ich dann noch weniger gegessen und noch mehr Lebensmittel aus meiner Ernährung gestrichen.»
Die Ernährungsberaterin sagt dazu: «Wichtigste Voraussetzung ist, dass die betroffene Person etwas verändern möchte. Grundsätzlich gilt, je rascher man etwas unternimmt und sich Hilfe holt, desto schneller lassen sich Muster und Verhaltensweisen auch wieder verändern und man kann den Weg aus der Essstörung finden.»
Inzwischen hat Lyn Waffenstillstand mit dem Essen geschlossen und ein Warnsystem entwickelt, das sich bemerkbar macht, falls es wieder kritisch werden könnte. Wenn sie in ihrem Leben viele Veränderungen wahrnimmt, die sie nicht beeinflussen kann, klopfe die Orthorexie manchmal an ihre Tür. «Das Einzige, worüber ich dann die Kontrolle habe, ist das Essen», sagt Lyn. Dass dieses Verhalten bezeichnend für Orthorexie ist, bestätigt Sarah Stidwill: «Oftmals besteht bei den betroffenen Personen der Wunsch, etwas kontrollieren zu können.»
Vor kalorienreichen Lebensmittel hat Lyn heute keine Angst mehr. Sie habe aufgehört, Lebensmittel in gesund und ungesund einzuteilen, und steckt ihre ganze Energie in den Sport. Als aktive Leistungssportlerin nimmt Lyn an Marathon- und Ultramarathon-Läufen teil und engagiert sich als Guide bei Laufcamps. Die sportlichen Wettkämpfe helfen ihr dabei, ohne schlechtes Gewissen auch mal Gummibärchen und Glace zu verschlingen. Lebensmittel, um die sie früher einen grossen Bogen machte.
Ich habe das Gefühl , dass sich viele Leute "optimieren" wollen. Ist ja auch okay, aber sie vergessen zu geniessen.
Ein "Züri Geschnätzlets" (geht auch mit Tofu, vegistyle) kann durchaus gesund sein.
Was für mich jedoch sicherlich ungesund ist, ist wenn man isst, aufs Handy, ins Fernsehen oder die Zeitung schaut und sich nicht darauf fokussiert das man etwas Feines vor sich hat.
Einfach nur eine Meinung.