Ein eiskalter Wind weht durch die Strassen von St.Gallen. Letzte Schneeflecken liegen vereinzelt auf den Wiesen, darüber ein durchzogener Himmel. Ein trister Tag, bemerkt auch Tabea Bellini, als sie mit ihrem Hund Wiggle beim Treffpunkt erscheint. Für einen Spaziergang durch den Wald hat sie einen roten Daunenmantel und senfgelbe Stiefel angezogen. Mit ihrem Style fällt sie gerne auf. «Versteckt» habe sie sich als Jugendliche lange genug.
Ihre Vergangenheit in psychiatrischen Kliniken hielt sie früher gern im Verborgenen. Zu gross war die Angst, stigmatisiert zu werden. Dabei ist Bellini kein Einzelfall: Laut dem Bundesamt für Statistik waren 2021 in der Schweiz knapp 20’000 Jugendliche zwischen 10 und 24 Jahren wegen psychischer Störungen stationär in Behandlung. Deutlich mehr als in den Jahren zuvor. Bei den Frauen stieg der Anteil in einem Jahr um 26 Prozent an.
In derselben Situation war Tabea Bellini. «Die Zeit in den Kliniken ist ein Teil von mir und hat mich zu dem Menschen gemacht, der ich heute bin», sagt sie. Sie habe mittlerweile eine andere Perspektive auf das, was passiert sei. Unterwegs durch den St.Galler Hätterewald erzählt die 25-Jährige, wie es dazu kam, dass sie 19 Monate in einer psychiatrischen Klinik verbrachte. Doch nicht am Stück. Sondern verteilt auf vier Aufenthalte.
«Meine psychischen Probleme hatten mich die letzten zehn Jahre fest im Griff», sagt Bellini. Doch alles nahm früher seinen Lauf. Als Kind wuchs sie zu Hause behütet auf, in der Schule wurde sie jedoch gemobbt. Wenn sie zurückblicke, sehe sie ein Mädchen, zu dessen Alltag Selbstzweifel und Verlustängste genauso gehörten wie das Pausenbrot, das sie mit in die Schule nahm. Der verhasste Ort.
Sie versuchte lange, sich anzupassen. Um ihre Rolle zu finden in dieser Welt, die für sie so viele überfordernde Eindrücke hinterliess. Bis ihr alles zu viel wurde: «Die erste depressive Phase hatte ich in der Oberstufe.» Was sie damals gefühlt habe, wisse sie noch genau. «Eine tiefe, schwarze Wolke, die einen runterdrückt. Ganz nach unten. Wo es schwierig wird, wieder aufzustehen», erinnert sich Bellini.
Die Angst. Schlimme Gedanken. Und dann nahm sie immer mehr Gewicht ab. «Die Krankheit hat mich schnell eingenommen.» Mit 14 sei sie stark magersüchtig gewesen. Jeden Tag sei sie weniger da gewesen, sagt sie. In diesem jungen Alter war sie auch, als sie ihren ersten Suizidversuch überlebte. Tabletten. Mit diesem Akt habe ihr langer Weg der Therapie begonnen.
Die 25-Jährige unterbricht ihre Geschichte, um für Wiggle einen Ast zu werfen. Der Mischlingshund, den sie aus einem Tierheim in Rumänien hat, bringt sie zum Lächeln. «Mein unfreiwilliger Therapie-Hund», nennt sie ihn. Bellini wirft das Holz ein zweites Mal – nun etwas weiter – und beginnt, von dem Tag zu erzählen, der so vieles veränderte.
«Meine Eltern versuchten es zuerst mit einer Gesprächstherapie für mich. Doch ich verlor weiter an Gewicht. 20 Kilo in etwa zwei Monaten», sagt Bellini. Sie selbst habe nicht eingesehen, dass sie ernsthaft krank war.
Doch ihre Mutter, die als Jugendliche auch Probleme mit einer Essstörung hatte, drängte darauf, mehr zu machen. «Wir schauten uns schliesslich eine Klinik an für Kinder und Jugendliche mit psychischen Erkrankungen», erzählt sie.
Ihre Eltern hätten sie überreden wollen, freiwillig eine stationäre Therapie zu machen. Doch für die Teenagerin sei das nicht infrage gekommen. «Als ich mich weigerte, wurde ich am Tag darauf von einem Arzt zwangseingewiesen», sagt Bellini heute nüchtern. Damals habe sie getobt.
Neun Monate dauerte die Therapie, um an ihrer psychischen und physischen Gesundheit zu arbeiten. Diagnostiziert wurde eine Magersucht, eine zwanghafte Persönlichkeitsstörung, Verdacht auf eine emotional instabile Persönlichkeitsstörung, Aspekte einer ängstlich-vermeidenden Persönlichkeitsstörung und Aspekte einer Borderline-Persönlichkeitsstörung, aber ohne gewisse Haupt-Symptomatiken. «Von den meisten dieser Krankheiten hatte ich zuvor noch nie gehört», erinnert sie sich.
Mit dem Leben in der Klinik konnte Bellini nicht viel anfangen, sie verkroch sich die meiste Zeit in ihrem Zimmer. Die Art der Behandlung habe es für sie auch nicht besser gemacht. «Das Motto war: Nimm zu und geh wieder. Nachdem ich entlassen wurde, verlor ich das ganze Gewicht wieder.» Dank der regelmässigen Nachbehandlung durch eine Psychotherapeutin und einer Ärztin sei sie später «in die Nähe eines Normalgewichts» gekommen.
Zurück im normalen Leben musste Bellini ein Jahr an der Oberstufe wiederholen, welches sie aufgrund des Klinikaufenthalts verpasste. Gleichzeitig stand die Lehrstellensuche an. «Ich machte mir Sorgen, ob ich überhaupt etwas finden würde mit meinem Lebenslauf», sagt sie. Zum Glück stellte es kein Problem dar, sie fand einen Ausbildungsplatz als Bibliothekarin – Fachfrau Information und Dokumentation. Noch heute arbeitet sie am selben Ort.
Doch mit 17 Jahren, wenige Monate vor dem Lehrantritt, wurden ihre psychischen Probleme wieder schwerwiegender. Einen zweiten Suizidversuch überlebte sie, der wieder eine Zwangseinweisung zur Folge hatte – für einen Monat. Dass sie sich damals so schnell erholte, lag auch daran, dass sie in der Klinik eine gute Freundin fand. Bellini ist mittlerweile sogar die Patentante ihrer Tochter. «Freundschaften können sehr heilend sein», sagt sie.
Nach ihrer Entlassung ging die St.Gallerin einmal wöchentlich zur Gesprächstherapie und begann ihre Ausbildung. «Ich hatte gute und schlechte Phasen, doch die Lehre war mir wichtiger. Ich wollte das einfach durchziehen», sagt sie. Ihre Probleme versuchte sie damals so gut wie möglich zu verdrängen. Dafür hatte sie bessere und schlechtere Taktiken.
Tabea Bellini setzt sich auf eine Holzbank vor einem Lindenbaum und zündet sich eine Zigarette an. Sie schliesst die Augen, nimmt einen tiefen Zug und atmet danach langsam wieder aus, während ihr Blick dem Rauch folgt, der in die Höhe gleitet. Entspannung. Dann beginnt sie, von ihrem dritten Klinikaufenthalt zu erzählen.
Die Lehrabschlussprüfungen kamen näher, und Bellini setzte sich immer mehr unter Druck. Als sie endlich ihr Zeugnis in den Händen hielt, habe sie sich erleichtert gefühlt. Kurz darauf begann wieder die Schule – zwei Tage pro Woche Berufsmatura. Die restliche Zeit arbeitete sie im Lehrbetrieb.
Für Bellini wurde es zunehmend schwieriger, ihre Depression zu verstecken. Die «tiefe, schwarze Wolke» war wieder da. «Ich meldete mich oft krank im Job und in der Schule, was für mich die einfachste Verdrängungstaktik war», sagt sie. Obwohl es alles schlimmer machte, wenn sie zu Hause blieb. Eine Abwärtsspirale.
Dieses Mal war es sie selbst, die entschied, dass sie professionelle Unterstützung brauchte. So kam es, dass sie mit 20 Jahren zum dritten Mal in eine psychiatrische Klinik ging, aber zum ersten Mal freiwillig – und an einem neuen Ort. «Die erste Klinik war nicht gut für mich. In der zweiten fühlte ich mich besser aufgehoben», sagt sie. Fast sechs Monate dauerte die Therapie, die sie im April 2019 abschloss.
Sofort begann Bellini danach, wieder zu arbeiten – Teilzeit. Weiterhin ging sie einmal pro Woche zu einer Psychiaterin. Die Berufsmatura musste sie nochmals starten im Herbst, da sie zu viel verpasst hatte.
«Mir ging es danach gut, bis die Coronapandemie kam», sagt Bellini. Immer öfter fehlte sie wieder im Job und in der Schule, die Depression war auf dem Vormarsch. «Zum Glück habe ich einen tollen Arbeitgeber und eine Chefin, die für mich viel Verständnis aufbringen kann», sagt sie. Ihre Chefin sei dann auch auf sie zugekommen und habe ihr versichert, dass sie eine weitere stationäre Therapie unterstützen würde. «Für das bin ich bis heute sehr dankbar», erzählt sie.
Im März 2021 trat sie so zum vierten Mal in eine psychiatrische Klinik ein. Auch die Schulleitung zeigte sich verständnisvoll – Bellini konnte das letzte Semester aussetzen und direkt an die Abschlussprüfungen gehen. «Neben der Therapie habe ich in der Klinik gelernt und mich vorbereitet», sagt sie. Drei Monate später konnte die mittlerweile 23-Jährige wieder nach Hause gehen. Kurz darauf schloss sie die Berufsmatura erfolgreich ab und begann, wieder zu arbeiten.
Seit diesem Zeitpunkt sind bald zwei Jahre vergangen. Bellini geht es so gut wie noch nie in ihrem Leben, wie sie selbst sagt. «Ich war noch nie so stabil und habe auch keine Symptome mehr. Trotzdem achte ich auf Warnzeichen, weil ich mir bewusst bin, dass es schnell abwärts gehen kann. Doch ich weiss nun, wie ich damit umgehe.» Ihre Gesprächstherapie habe sie stufenweise reduziert, momentan gehe sie noch einmal im Monat.
Sie sei dankbar. So weit zu kommen, hätte sie sich früher nie erträumt. Es ist ihr auch wichtig zu betonen, welche Rolle ihr Umfeld bei ihrer Genesung gespielt habe. «Dank meinen Leuten bin ich heute hier, ihre Liebe hat mich getragen», sagt sie.
Für Tabea Bellini beginnt nun ein neuer Lebensabschnitt. «Jetzt habe ich die Kraft für meine Zukunft», sagt sie. Im September beginnt sie ein Psychologiestudium an einer Fachhochschule, die Studienbestätigung erhielt sie erst kürzlich. Wenn alles gut geht, möchte sie später Psychotherapeutin werden und sich darauf spezialisieren, Menschen mit Essstörungen und Magersucht zu behandeln.
«Ich habe es selbst erlebt. Deshalb will ich anderen damit helfen», sagt Bellini. Wenn es doch nichts für sie sei, suche sie sich einfach einen neuen Traum – das habe sie nach vier Aufenthalten in psychiatrischen Kliniken gelernt.
Damit macht sie vielen Betroffenen und auch deren Angehörigen Mut!
Ich wünsche ihr weiterhin alles Gute!