«Du arbeitest als Journalistin? Geil, ich habe hundert Fragen an dich.» Diese Nachricht landet im Frühling in meinem Instagram-Postfach. Geschrieben hat sie ein ehemaliges Schulgspänli, das ich in diesem Artikel Manu nennen werde.
Als ich Manus Nachricht lese, ertappe ich mich dabei, wie ich die Augen verdrehe und denke:
Zuerst will ich ihm darum nicht antworten. «Ich kann seine Meinung sowieso nicht ändern und es kostet nur Energie», sage ich mir. Aber nicht zu antworten, ändert noch viel weniger, oder? Also schreibe ich zurück: «Ja, ich bin Journalistin. Schiess los.»
Und die Fragen kommen. Wie aus der Pistole geschossen. Ob wir Journalisten vom Staat oder von den Reichen und Mächtigen der Welt bezahlt würden, will Manu wissen. Ob es Themen gibt, über die wir nicht berichten dürfen. Wie wir zu unseren Experten kommen, die wir jeweils befragen. Und warum wir nicht die, aus seiner Sicht, wichtigen, kritischen Fragen stellten.
Ich antworte geduldig. Erkläre meinen Berufsalltag. Versuche zu ergründen, was denn «die wichtigen Fragen» sind. Wir schreiben mehrere Tage hin und her. Manu regt sich über die Schweizer Corona-Politik, die gesamten «westlichen» Medien und Greta Thunberg auf.
Ich merke, dass er mit sich hadert. Immer wieder sagt er, er wolle nicht mich persönlich angreifen. Er habe positive Erinnerungen an mich als Schulgspänli. Der Austausch ist anstrengend, aber respektvoll. Doch als Manu mir ein Tiktok-Video der AFD schickt, die eine Verschwörung der Grünen Partei mit internationalen Milliardären wittert, breche ich ab. Es bringt nichts. Zu diesem Schluss kommen wir beide.
Manu geht mir seither nicht mehr aus dem Kopf. Ich will verstehen, wann und weshalb ihn dieser Welthass überkam. Wie es ihm geht. Wie es ihm die letzten drei Jahre erging. Und vor allem auch, was ich – als Journalistin, aber auch als seine ehemalige Klassenkameradin – bewirken könnte, damit unsere Gesellschaft wieder ein wenig zusammenfindet. Jetzt, da die Corona-Pandemie als «vorüber» gilt.
Also schreibe ich Manu erneut. Ich bitte um ein Treffen und darum, ihm all diese Fragen stellen zu dürfen. Und Manu sagt zu.
Wir treffen uns an einem Dienstagmorgen vor unserem ehemaligen Kindergarten im kleinen Thurgauer Dorf, in dem wir aufgewachsen sind. Zur Begrüssung umarmen wir uns. Wie alte Freunde. Auch wenn wir in Wirklichkeit nie mehr waren als Klassenkameraden. Von hier aus machen wir uns auf den Weg zum Spielplatz des Schulhauses, in dem wir drei Jahre lang zusammen in die Primarschule gingen.
Zuerst sprechen wir über einfache Themen. Manu hat heute zwei Töchter. Die Ältere ging in denselben Kindergarten wie wir einst. Jetzt ist Manu aus dem Dorf weggezogen. Seine jüngere Tochter hat er ans Treffen mitgenommen. Momentan sei er «vollziit Huuspapi».
Manu ist gerne Papa. Das sehe ich. Er ist geduldig und aufmerksam. Nimmt seine Tochter ernst. Unterbricht immer wieder das Gespräch, um ihr zu antworten. Auf dem Spielplatz angekommen tröstet er sie liebevoll, als sie sich den Kopf am Klettergerüst stösst. Vor dem Rutschen auf der grossen Rutschbahn sagt er ihr Sätze wie: «Kannst du das? Gut, ich vertraue dir.» Es ist schön, das mitanzusehen. Zumal Manu als Kind wohl nie solche Sätze zu hören bekam.
In der Schule war Manu der Klassenclown. Er war laut, redete viel, hatte immer Quatsch im Kopf. Aber er war nie gemein. Daran erinnere ich mich ganz genau. Damals sagte man mir: «Der Manu hat eben ADHS.» Was das bedeutete, verstand ich als Kind nicht.
Doch ich sah, wie Erwachsene wegen ihm ausrasteten. Sah, wie unsere Lehrerin ihn aus Verzweiflung schüttelte. Grob. Heute würde man sagen: Sie wurde handgreiflich. Später, in der Sek, bekam ich mit, wie ältere Schüler Manu zusammenschlugen. Er selbst erzählt mir heute von einem Lehrer, der ihn gewürgt hatte, nachdem er auf einer Wanderung ein Blatt von einem Baum abgerissen hatte.
Manu sagt das mit einer Abgebrühtheit, die weh tut. Seine Eltern hätten ihm immer wieder gedroht, ihn ins Heim zu stecken. Sein Vater hatte seine eigenen «Erziehungsmethoden». Diese bestanden vor allem aus harter Arbeit. Manchmal wurde er aber auch handgreiflich.
Schon mit 17 Jahren zieht Manu darum von zuhause aus. Seine Lehre bricht er kurz darauf ab. Stattdessen beginnt seine Drogenkarriere. Er sucht nicht den Rausch, sondern seine Grenzen. Dann, mit 20 Jahren, sei er «wieder zur Vernunft gekommen». Manu schliesst eine Lehre ab, lernt kurz darauf seine Frau kennen, heiratet, hat Kinder, schliesst Frieden mit den Eltern. «Alles war perfekt», sagt er. Und dann kam Corona.
Manu bekommt die Pandemie und ihre Auswirkungen aus nächster Nähe mit. Seine Frau ist Diplomierte Pflegefachfrau im Spital. Zuhause erzählt sie ihm, was sie auf der Arbeit zu Gesicht bekommt.
Zu dieser Zeit glaubt Manu jedes Wort von Daniel Koch, dem Leiter der Abteilung «Übertragbare Krankheiten» beim BAG. Doch dann tritt Koch in den Ruhestand und Manu versteht die Welt nicht mehr.
«Er war für mich wie ein Rockstar, der auf seine finale Welttournee geht. Ein absoluter Experte auf seinem Gebiet. Warum tritt er mitten auf der Abschlusstournee zurück?» Das muss nicht mit rechten Dingen zu und her gegangen sein, ist sich Manu sicher. War das der Grund, weshalb man die Schweiz nicht von Anfang an abriegelte? Wollte die Pharmaindustrie, dass so viele Menschen erkrankten und Medikamente brauchten? Und warum berichteten die Medien nicht kritischer über Kochs Abgang? All diese Fragen prasseln auf Manu ein.
«Hast du da angefangen, dein Vertrauen in den Staat und die Medien zu verlieren?», frage ich. Manu zuckt die Schultern. Den Schweizer Medien habe er davor schon nicht mehr vertraut. Seitdem sie dieser Greta Thunberg, diesem kleinen Mädchen, jedes Wort geglaubt hätten. Manu zweifelt am menschgemachten Klimawandel. Er sagt einen Satz, den ich nicht mehr hören kann: «Das Klima hat sich schon immer verändert.»
Ich bin nicht hier, um zu diskutieren. Auch nicht, um seine Haltung zu ändern. Trotzdem muss ich mir bei solchen Aussagen immer wieder auf die Lippen beissen. Manu redet auch heute noch viel und schnell. Er spricht über Donald Trump, China, Alain Berset, die WHO. Schafft Verbindungen, die ich nie gesehen habe. Und die ich auch jetzt nur schwer nachvollziehen kann. Das sage ich ihm auch.
«Das kann ich verstehen. Für mich macht das, was die Medien erzählen ja auch keinen Sinn», sagt Manu. Er gebe mir keine Schuld. Das liege an unserem Schulsystem. Das würde den Leuten eine Gehirnwäsche unterziehen, damit sie zu Menschen würden, die der Norm entsprechen. Aber ihn habe man nicht zu einem «Systemling» machen können. Auch wenn man es versucht habe.
Während der Pandemie ging es Manu «scheisse». «Ich war aggressiv und depressiv.» Weshalb? «Ich habe mich nicht impfen lassen. Und irgendwann konnte ich dann nichts mehr draussen machen. Durfte nirgends rein. Wurde ausgeschlossen. Währenddessen hetzten die Medien gegen ‹Schwurbler›, ‹Coronaskeptiker›, ‹Verschwörungstheoretiker›. Ich dachte: Jetzt passiert’s. Jetzt wird unsere Gesellschaft gespalten. Das wollen die Leute, die die Medien bezahlen.»
Manu bekam Angst. Angst vor einem Bürgerkrieg. Aber auch Angst, seine Familie zu verlieren. Denn immer, wenn er bei seinen Eltern auf Besuch war, gab es Streit.
Niemand in seiner Familie hätte seine Ansichten geteilt. Seine Schwester, eine Polizistin, vertrat die Meinung: Alle müssen sich impfen lassen. Das ging Manu zu weit. «Da sagte ich ihr: ‹Sicher nicht! Mich und meine Kinder lasse ich nicht impfen!› Ich bin nicht per se gegen Impfungen. Aber dieser Impfstoff ist noch nicht erprobt. Meine Kinder lasse ich nicht Versuchskaninchen spielen. Ich wurde aggressiv.»
Ich: «Inwiefern? Was hast du dann gemacht?»
Manu: «Ich habe meiner Schwester gesagt: ‹Irgendwann stehen wir uns bei einer Demo gegenüber. Du als Polizistin, ich als Demonstrant. Und dann gehe ich nur auf dich los. Das verspreche ich dir.›»
Ich bin baff. Weiss nicht, wie wir plötzlich an diesen Punkt gekommen sind. Wo so viel Hass gegen die eigene Schwester herkommen kann. Zum Glück mussten sich Manu und seine Schwester nie so gegenüberstehen. Manu ging nie demonstrieren. Denn mit Gruppierungen wie den Freiheitstrychlern kann er nichts anfangen. «Ich habe meine ganz eigenen Überzeugungen.»
Die Beziehung zu seiner Schwester hat sich seitdem nicht beruhigt. Vor einem halben Jahr hätten sie ein klärendes Telefongespräch versucht. «Wirklich geklärt ist die Sache für mich aber nicht. Das wäre es erst, wenn sie sich für ihren Fehler entschuldigen würde», sagt Manu.
Ich: «Für welchen Fehler denn?»
Manu: «Dass sie der Meinung war, alle sollen sich impfen lassen.»
Ich: «Aber ist das nicht eher eine Meinungsverschiedenheit als ein Fehler?»
Manu: «Für mich ist es ein Fehler.»
Ich frage mich, ob unsere Gesellschaft überhaupt noch zusammenfinden kann, wenn wir alle so denken. Wenn Meinung falsch oder richtig sein kann. Was ich aus diesem Gespräch vor allem heraushöre, ist ein junger Mann – ein junger Vater – mit ernstzunehmenden Ängsten. Angst um seine Kinder. Aber auch Angst, ausgeschlossen zu werden von der Gesellschaft, der eigenen Familie. Schon wieder. Also schliesst er sich lieber selbst aus. So viel Macht will er niemandem mehr geben.
«Wie geht es dir heute?», will ich wissen. Manu lächelt breit, schaut zu seiner Tochter, die auf dem Spielplatz herumtobt. «Gut. Besser. Ich habe mich nicht vom System brechen lassen», sagt Manu.
Unser Gespräch findet langsam sein Ende. Wir machen uns auf den Rückweg. Manu muss um 12 Uhr wieder zuhause sein. Die Tochter kommt von der Schule und wartet auf den Zmittag. Zum Schluss will ich nur noch eines von meinem ehemaligen Schulgspänli wissen: «Was können wir Medien tun, damit Menschen wie du wieder Vertrauen in uns haben?»
«Mehr kritisch hinterfragen. Mehr andere Experten, nicht immer die gleichen Leute zu Wort kommen lassen», sagt Manu. Ich nicke und schreie innerlich: «Das versuchen wir doch! Jeden Tag aufs Neue.» Schliesslich fügt Manu hinzu: «Und das hier. Dieses Treffen. Das ist ein Anfang.»
Das ist traurig und spaltet Familien und die Gesellschaft.