Dreizehn Jahre lang bewegten sich die Zahlen in eine Richtung: nach oben. Jahr für Jahr beendeten mehr Leute, die in der Schweiz wohnen, ihr Leben mit den Diensten von Sterbehilfeorganisationen. Nun ist die Zahl zum ersten Mal nicht mehr angestiegen. Was in der Schweiz derzeit passiert, passt zu einer Veränderung, die weltweit zu beobachten ist. Doch der Reihe nach.
Das gesellschaftliche Phänomen ist relativ jung. Im Jahr 2003 erreichten die assistierten Suizide eine Grössenordnung, die sie für das Bundesamt für Statistik relevant machten. Erstmals wurden sie in einer eigenen Kategorie erfasst.
Damals nahmen sich 187 Leute mit Wohnsitz in der Schweiz das Leben mit der Hilfe einer Freitodorganisation. In den darauf folgenden dreizehn Jahren fand eine Verfünffachung statt. Im Jahr 2015 starben 965 Personen, indem sie einen Giftbecher einer Freitodorganisation tranken oder eine zur Verfügung gestellte Infusion aufdrehten.
Der Sterbehilfe-Boom hatte positive Folgen. Im gleichen Zeitraum ging die Zahl der «normalen», nicht-assistierten Suizide von rund 1300 auf 1000 pro Jahr zurück. Nur noch halb so viele Leute vergifteten sich ohne professionelle Unterstützung und 30 Prozent weniger erschossen sich.
Doch dieser Rückgang ist viel kleiner als die Zunahme der Freitodbegleitungen. Zählt man die assistierten und die nicht-assistierten Suizide zusammen, kommt man mittlerweile auf 2000 Fälle pro Jahr. Zum Vergleich: Nur 230 Leute sterben hierzulande durch Verkehrsunfälle. Wenn die Sterbehilfe-Fälle im gleichen Tempo wie bisher zunähmen, erreichten sie beunruhigende Ausmasse.
Doch nun haben die Statistiker einen Knick in der Kurve festgestellt. Zum ersten Mal seit dem Beginn der Statistik sind die assistierten Suizide zurückgegangen: auf 928 Fälle. Es handelt sich um eine Reduktion von vier Prozent gegenüber dem Vorjahr. Die neusten Zahlen stammen von 2016.
Die Erstellung der Todesursachenstatistik dauert langsam, dafür ist sie präzise. Es gibt praktisch keine Dunkelziffer. Jeder Todesfall wird von den Einwohnerämtern erfasst und mit der Todesursache ans Bundesamt für Statistik übermittelt.
Neuere Zahlen aus anderen Quellen deuten darauf hin, dass es sich um den Beginn einer Stagnation handeln dürfte. Vier Fünftel aller assistierten Suizide von Schweizern werden von Exit durchgeführt. Der Verein verzeichnete den Höhepunkt der Anzahl Fälle ebenfalls im Jahr 2015 und danach den ersten Rückgang.
2017 stieg die Zahl nur minim an und blieb unter dem bisherigen Höchstwert. Der Exit-Vorstand nennt als einen der Gründe für den Rückgang die besser ausgebaute Palliativmedizin. Diese hat das Ziel, unheilbar kranken Menschen ein Leben mit möglichst wenig Beschwerden zu ermöglichen. Der Tod soll dabei weder beschleunigt noch verzögert werden.
Was Palliative Care ist, wissen in der Schweiz immer mehr Menschen. Innert zehn Jahren ist der Anteil der Leute, die schon von dieser Behandlungsmethode gehört haben, von 48 auf 59 Prozent angestiegen. Das zeigt die Bevölkerungsbefragung des Bundesamts für Gesundheit von 2018.
Monika Obrist, Präsidentin des Vereins Palliative CH, stellt fest, das Angebot sei in den vergangenen fünf Jahren schweizweit in allen Leistungsbereichen ausgebaut worden. Viele Leute hätten dadurch gemerkt, dass es diverse Möglichkeiten gebe, das Leben trotz Krankheit mit hoher Lebensqualität zu gestalten. «Man muss weder leiden bis zum Ende noch das Ende selber aktiv herbeiführen», sagt sie. Deshalb gehe sie davon aus, dass die Zahl der assistierten Suizide nicht mehr ansteigen und sich auf dem heutigen Niveau einpendeln werde.
Die offene Frage ist, wie die Generation der Babyboomer mit dem Lebensende umgehen wird. Diese wird in 20 bis 30 Jahren das 80. Lebensjahr erreichen. Exit rechnet damit, dass dann 5 Prozent der Todesfälle in der Schweiz assistierte Suizide sein werden. Heute sind es 1.5 Prozent.
Die Todesursachenstatistik erfasst nur die assistierten Suizide von Leuten mit Wohnsitz in der Schweiz. Das Land ist weltweit bekannt für sein liberales Sterberecht. Jahrelang stieg deshalb auch die Zahl der Ausländer an, die ihre letzte Reise in die Schweiz antraten.
Doch beim Sterbetourismus könnten die Boom-Jahre nun ebenfalls vorbei sein. Dignitas ist die zweitgrösste Sterbehilfeorganisation der Schweiz und bedient im Gegensatz zur Branchenführerin Exit auch Ausländer. Am Dienstag veröffentlichte der Zürcher Verein seine Zahlen für 2018. Er führte 221 Freitodbegleitungen durch. Seit 2012 befindet sich die Zahl auf diesem Niveau.
Dass die Nachfrage nach der «Swiss Option» nicht mehr wie bisher ansteigt, führt zur Frage, ob sich Ausländer vermehrt in ihrer Heimat umbringen. Doch das Gegenteil trifft zu. In fast allen Ländern ist die Suizidrate in den vergangenen Jahrzehnten gesunken. Eine bessere Lebensqualität und mehr soziale Freiheiten gelten als Gründe dafür.
In China und Indien bringen sich weniger junge Frauen um, weil sie mehr Wahlfreiheit bei der Heirat haben. In Russland wird der Rückgang mit Putins strengerer Alkoholpolitik erklärt. Mit der Zahl der Trinker sinkt jene der Lebensmüden. Nur in einem Land steigt die Suizidrate: in den USA. (bzbasel.ch)