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«Schreiben nach Gehör» steht in mehreren Kantonen auf der Kippe

Mit der Lernmethode «Schreiben nach Gehör» üben die Kinder zunächst, die Laute der Wörter herauszuhören und sie phonetisch aufzuschreiben.
Mit der Lernmethode «Schreiben nach Gehör» üben die Kinder zunächst, die Laute der Wörter herauszuhören und sie phonetisch aufzuschreiben.bild: watson 

Richtich oder valsch? «Schreiben nach Gehör» steht in mehreren Kantonen auf der Kippe 

In vielen Schulen dürfen Primarschüler so schreiben, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist. Der Kanton Nidwalden ist vorgeprescht und verbannt das lautgetreue Schreiben neu ab der 2. Klasse aus den Schulzimmern. Das will nun auch der Zuger Bildungsrat prüfen. 
30.10.2018, 06:3330.10.2018, 06:53
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«Mein Nahme ist Lena und ich besize eine Kaze»: Sätze wie diesen schreibt so mancher Primarschüler in sein Aufsatzheft – und das ganz ohne Rotstift-Korrektur des Lehrers. In vielen Schweizer Schulen dürfen Primarschüler so schreiben, wie sie sprechen. «Schreiben nach Gehör» heisst das Konzept aus dem Lehrplan 21 – und es ist umstritten. Der Kanton Nidwalden wird das lautgetreue Schreiben nun ab der 2. Klasse aus den Schulzimmern verbannen, wie die NZZ berichtet. 

Der Widerstand wächst nun auch in anderen Kantonen. Stephan Schleiss, Zuger Regierungsrat (SVP) und Präsident der Deutschschweizer Erziehungsdirektoren-Konferenz (D-EDK), sagt auf Anfrage von watson: «Ich werde diese Frage im kantonalen Bildungsrat auf die Traktandenliste setzen.» 

Der für die Deutschschweiz geltende Lehrplan 21 sieht eigentlich vor, dass die Lehrer erst ab der 3. Klasse in der Schriftsprache auf Korrektheit pochen. Die heutigen Lehrmittel zum Lesen- und Schreibenlernen bauen auf dieser Methode auf. 

Seit Jahren kritisiert 

Die Lernmethode wird bereits seit geraumer Zeit scharf kritisiert. Der Nidwaldner Bildungsdirektor Res Schmid (SVP), der in seinem Kanton nun früher auf korrekte Orthographie setzt, sagte gegenüber der NZZ: «Es ist der Rechtschreibung nicht dienlich, wenn man zu spät damit beginnt.» Es brauche einen grossen Aufwand, wenn die Schülerinnen und Schüler zwei Jahre lang orthografisch falsch schreiben dürften und dann ab der 3. Klasse die Fehler, die sich verstetigt hätten, korrigiert werden müssten.

Die Verbannung des «Schreibens nach Gehör» wünscht sich auch SVP-Nationalrätin Verena Herzog, wie die Bildungspolitikerin letztes Jahr zu watson sagte. Besonders für Migrantenkinder sei das ein zusätzliches Erschwernis. Besser wäre es laut Herzog, wenn Kinder Schritt für Schritt mit viel Übungsmöglichkeiten wie Diktaten gute Grundlagen in Deutsch erarbeiten könnten. «Das gibt ihnen Sicherheit und motiviert zu schreiben.»

Befürworter der Methode argumentieren hingegen, dass man mit zu frühem Insistieren auf die Rechtschreibung vielen Kindern die Freude am Lesen- und Schreibenlernen nehme. Marion Heidelberger, Vizepräsidentin des Lehrerinnen- und Lehrerverbandes Schweiz, sagt zudem: «Die Textanalyse ist in der heutigen Zeit von Fake-News auch besonders wichtig.» Dass dies teilweise auf Kosten der Rechtschreibkenntnisse der Schüler gehe, sei «gut möglich».

Die Kantone Uri und Bern stehen weiter zum «Schreiben nach Gehör», wie die jeweiligen Erziehungsdirektionen auf Anfrage von watson mitteilen. «Bis jetzt haben wir diesbezüglich keine kritischen Feedbacks erhalten», sagt Martin Werder, Sprecher der Berner Erziehungsdirektion. 

Wer hat's erfunden?

An der Lernmethode scheiden sich auch in der Forschung die Geister. Tatsächlich gibt es seit den 1970er-Jahren Studien, die das lautorientierte Schreiben als eine «wesentliche Entwicklungsphase» beschreiben. Gleichzeitig wird das Konzept von verschiedenen Forschern als problematisch angesehen. Besonders für Legastheniker, Kinder aus bildungsfernen Schichten und Kinder mit fremdsprachigem Migrationshintergrund sei das Konzept fragwürdig. Diese Schüler würden im Elternhaus keine zusätzliche Unterstützung bekommen oder hätten Mühe, Diktiertes lautgetreu wiederzugeben.

Entwickelt hat die umstrittene Methode der Schweizer Reformpädagoge Jürgen Reichen. Er lehnte es strikt ab, Kinder beim Schreibenlernen mit Rechtschreibregeln zu überfordern. In Diktaten und Rotstift sah er «unproduktives, totes Buchstabenwissen und Ausfluss einer kollektiven Zwangsneurose».

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105 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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RhabarBär
30.10.2018 06:58registriert Juni 2017
"«Mein Nahme ist Lena und ich besize eine Kaze", Sätze wie diese schreibt so mancher Erwachsene in den Kommentarspalten.
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El Vals del Obrero
30.10.2018 07:08registriert Mai 2016
Ursprünglich waren Lautschriften doch dafür gedacht, die Laute 1:1 wiederzugeben. Von dem her wäre diese Variante eigentlich schon der "natürliche" Weg.

Das Problem liegt aber darin, dass aufgrund historischer Entwicklungen Laut und Schrift nicht immer 1:1 dasselbe sind (wobei das bei anderen Sprachen viel extremer ist).

Solange das so ist, halte ich diese Methode auch für Quatsch, zumindest wenn sie ganze zwei Jahre angewendet wird.

Für den allerersten Monat, bis man das Prinzip verstanden hat, dass es einen Zusammenhang zwischen Lauten und Buchstaben gibt, kann es aber schon sinnvoll sein
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Ferranya
30.10.2018 07:22registriert April 2018
Meine ältere tochter kommt nächstes jahr in die schule und da ich (und auch einige lehrpersonen) bei ihr ein grosses sprachliches geschick erkenne werde eben ich mit ihr die rechtschreibung üben. Ich finde es bescheuert dass sie zuerst "falsch" schreiben lernen sollen.....
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