Herr Salathé, wie geht es Ihnen?
Marcel Salathé: Gut, danke. Ihnen?
Mittelgut.
Warum?
Weil der Bundesrat rasch sehr weitreichend die Shutdown-Massnahmen lockern will und ich Zweifel habe, ob wir darauf genügend vorbereitet sind. Wie sehen Sie das?
Im Ringen um den Kompromiss zwischen dem Schutz der Gesundheit und demjenigen der Wirtschaft, im Ringen um restriktive und weitreichende Öffnungspraxis also, ist diese Woche zwar klar etwas gekippt, das ist so. Es geht jetzt sehr schnell in Richtung Öffnung, so schnell, wie es vorher in Richtung Shutdown ging. Aber wir sind auch besser vorbereitet als Anfang Februar.
Ist das wirklich so? Etwas vom Wichtigsten, um die Lockerungen durchzuhalten, ist doch das Social Tracing, dass man Kontakte von Infizierten aus den Ansteckungsketten ziehen kann. Das hat der Bund den Kantonen delegiert.
Ja, auch weil die das teilweise so wollen, die Autonomie soll erhalten bleiben.
Aber die Kantone sind, sechs Arbeitstage vor Öffnung, sagen wir, mässig vorbereitet, nicht?
Der Gesamtüberblick fehlt mir da, ehrlich gesagt...
...da sind Sie nicht der Einzige. Hat Herr Koch wenigstens einen? Er sagt immer nur, die Kantone seien «daran, sich vorzubereiten».
Das weiss ich nicht, aber ich denke, Bundesrat Berset und das BAG haben den Kantonen jetzt schon relativ deutlich zu verstehen gegeben, dass sie für das Social Tracing zuständig sind und auch in der Verantwortung stehen. Diese Verantwortung ist gross, denn wenn das nicht klappt und die Ansteckungen wieder exponentiell zunehmen, dann laufen wir auf eine zweite Infektionswelle zu.
Basel-Stadt hat 3 Tracing-Vollzeitstellen, Zürich überlegt sich, eine externe Firma zu beauftragen und Bern ruft nach irgendeinem Tool? Laufen wir da nicht sowieso direkt in die zweite Welle?
Nein, die lässt sich schon vermeiden, denke ich. Aber nur, wenn sich die Leute streng an die Regeln halten, die verschiedenen Hygieneschutz-Konzepte funktionieren und beim Tracing nur wenige Kontakte unentdeckt bleiben. Wenn das alles nicht funktioniert, dann wird es sehr schwierig, denn dann wäre ein erneuter Shutdown nötig. Aber ein neuer Shutdown ist nicht durchführbar.
Wir wären nicht die Ersten, Japan musste auch erneut Shutdowns ausrufen.
Ja, aber ich glaube, der wird sich dann in der Schweiz nicht mehr so einfach mit Verordnungen und dem Appell an die Eigenverantwortung realisieren lassen. Und politisch wird die Akzeptanz für erneute Restriktionen im für den Fall einer zweiten Welle nötigen Ausmass auch nicht grösser, wenn ich das so sagen darf. Dann kann es sehr rasch unkontrollierbar werden, wenn man da Zeit verliert oder zu lasch ist.
Wie meinen Sie das, «unkontrollierbar»?
Es sind, alles in allem, kaum mehr als 5 Prozent der Schweizer Bevölkerung mit dem Virus infiziert worden bis jetzt. Das heisst, für das Virus herrschen in Sachen Ansteckungsmöglichkeiten immer noch etwa die gleich paradiesischen Bedingungen wie Anfang Februar. Minus die Vorsicht der Leute natürlich, die versuchen, sich nicht zu nahe zu kommen. Deswegen dürfen wir jetzt nicht in die Unvorsicht zurückfallen, das ist sehr wichtig.
Warum sagen Berset und Koch das denn nicht deutlicher, wenn sie schon so weitreichende Öffnungen kommunizieren?
Ich wünschte mir da auch eine klarere Kommunikation. Aber derzeit sind alle so am Rotieren, um die Konzepte, Strukturen und Abläufe im Rahmen der Lockerungen zu erarbeiten, dass die Kommunikation wohl schlicht zu kurz kommt. Da habe ich auch ein gewisses Verständnis. Alles wieder hochzufahren, ist einfach ungleich komplexer, als einen Shutdown zu organisieren.
Was, wenn es nicht funktioniert, wenn es doch zu viel aufs Mal ist?
Ich bin nicht so pessimistisch wie Sie. Ich gehe davon aus, dass die Betriebe, der ÖV, die Arbeitgeber sehr genau darauf achten werden, dass bei ihnen die Ansteckungsgefahr gering ist. Denn wenn ein erneuter Shutdown nötig wird, leidet die Wirtschaft zuerst am allermeisten. Niemand will einen zweiten Shutdown, deswegen gehe ich auch nicht davon aus, dass sich aufgrund der Lockerungsschritte sofort alle wieder in Partys und andere heikle Situationen stürzen.
Aber auch Sie arbeiten mit Annahmen, wissen können Sie es nicht und die Datenlage ist immer noch schwach. Wie wollen Sie so einen erneuten exponentiellen Anstieg der Ansteckungen rechtzeitig feststellen, falls es schiefgeht?
Das stimmt, das wird sehr schwierig. Wir können immer nur mit einigen Tagen Verzögerung auf den entscheidenden Faktor R schliessen, also abschätzen, wie sich die Kurve entwickelt. Das Problem ist, dass wir nicht genügend schnell genügend Daten haben. Das Virus ist uns immer ein paar Tage voraus. Ich habe jetzt irgendwo wieder gelesen, dass gewisse Ärzte Testresultate immer noch per Fax verschicken. Aber da machen wir auch von der wissenschaftlichen Taskforce her Druck, dass wir die nötigen Daten schneller kriegen. Ob das schnell genug ist zum entscheidenden Zeitpunkt, sehen wir dann.
Noch ein Wort zu den Kindern. Sind die nun ansteckend oder nicht? Ist es gescheit, die Schulen zu öffnen?
Das weiss niemand sicher. Aus wissenschaftlicher Perspektive lassen sich da keine verlässlichen Aussagen machen und ich verstehe, dass das frustrierend ist. Und wenn die Wissenschaft eine Frage nicht beantworten kann, dann macht man das halt auf der ethisch-philosophischen Schiene via Güterabwägung. Und da gewichtet man nun in der Schweiz das Recht auf Bildung der Kinder höher als die weder erwiesene noch falsifizierte Gefahr, dass Kinder sehr ansteckend wären.
Auch das ist nicht wirklich beruhigend.
Ja, aber es gilt auch in den Schulen, was jetzt mit diesem weitreichenden Öffnungsplan generell gilt: Es braucht einfach allergrösstes Vertrauen, dass sich die Leute weiterhin vernünftig an die Hygiene- und Social-Distancing-Regeln halten. Und letztlich muss man auch immer bereit sein, eine Entscheidung wieder rückgängig zu machen. Wir werden noch viel über dieses Virus lernen müssen.
Aber hey liebe Medien. Fahrt eure Geschütze mal runter. So langsam nerven mich solche "Hauptartikel". Sie sind lauter sugestiv-fragen und "könnte, wenn, dann, glaube".