Ueli Maurer hat an einem Anlass in Wald scharfe Kritik am Bundesrat ausgeübt. Als Reaktion darauf unterbreitete die SP dem Gesamtbundesrat einen Fragenkatalog. Sie wollte wissen, wie die Aussagen Maurers mit dem Kollegialitätsprinzip vereinbar seien.
Guy Parmelin wich am Montag den Fragen in der Fragestunde des Nationalrats jedoch aus, wofür die SP dem Bundesrat «Rückgratlosigkeit» vorwarf. Der Politologe Daniel Kübler hat die Angelegenheit für watson eingeschätzt. Kübler ist Professor für Demokratieforschung und Public Governance an der Universität Zürich und ist beim Zentrum für Demokratie in Aarau Mitglied der Direktion.
Herr Kübler, können Sie kurz erklären, was das Kollegialitätsprinzip ist?
Daniel Kübler: In der Schweiz gilt das Kollegialitätsprinzip seit Gründung des Bundesstaates im Jahr 1848. Mitglieder der Regierung nehmen an den Entscheidungsprozessen teil, haben eine Stimme und können in Minderheiten versetzt werden. Aber das Kollegialitätsprinzip besagt, dass alle Mitglieder die Entscheidung der Regierung mittragen müssen. Man kann nicht sagen: «Das hat der Bundesrat entschieden, ich bin damit aber nicht einverstanden.»
Würde der Bundesrat ohne das Kollegialitätsprinzip überhaupt funktionieren?
Nein.
Wieso nicht?
Wenn einzelne Mitglieder die Entscheidungen der Regierungen hintertreiben, dann kann sie ihrem Führungsanspruch nicht gerecht werden.
Können Sie das erläutern?
Dazu ein Beispiel. Wenn der Gesamtbundesrat auf Antrag des Gesundheitsministers entscheidet, eine Zertifikatspflicht einzuführen, funktioniert dies nur, wenn alle Mitglieder mitziehen. Wenn einzelne Exponenten sagen würden, dass man da nicht mitmache, würde die Regierung nicht funktionieren.
Das Kollegialitätsprinzip verlangt von den Bundesratsmitgliedern eine gehörige Portion Disziplin.
Das ist natürlich ein Spannungsverhältnis. Auf der einen Seite das Mehrheitsverhältnis nach innen, auf der anderen Seite das Kollegialitätsprinzip nach aussen. Man kann im Bundesrat mit seinen Anträgen unterliegen, muss die Entscheidungen dann aber nach aussen trotzdem verteidigen. Dass dies einzelnen Mitgliedern widerstrebt und sie unter diesen Spannungen leiden, liegt in der Natur der Sache. Die Versuchung ist natürlich gross, zu sagen: «Ich war da übrigens anderer Meinung.»
Wie ordnen Sie den Auftritt von Ueli Maurer in Wald ein? Er attestierte der Schweiz eine «Führungskrise».
Es ist tatsächlich ein Problem, wenn Bundesräte zu stark Einblicke in interne Prozesse geben. Die sind eigentlich geheim, die Protokolle der Regierung sind nicht öffentlich. Aber nur weil Ueli Maurer der Schweiz eine Führungskrise attestiert, heisst das ja nicht, dass er die Entscheidungen der Regierung nicht mitträgt. Das ist übrigens nichts Neues. Ich darf etwa an die Libyen-Affäre erinnern.
Gerne!
Hans-Rudolf Merz flog damals nach Libyen, um Geiseln zu befreien, was nicht funktionierte. Das ist von Mitgliedern des Bundesrates damals als wenig zielführend kritisiert worden. Das gab es also schon früher, dass Mitglieder des Bundesrates dem Gremium wenig Führungsvermögen attestierten.
Gab es also schon immer Verletzungen des Kollegialitätsprinzips?
Ein Spezialist war SP-Bundesrat Otto Stich. Er hat hinter vorgehaltener Hand immer wieder durchblicken lassen, dass er mit Entscheidungen des Bundesrates nicht einverstanden war. Pascal Couchepin, Ruth Dreifuss und Christoph Blocher haben das ebenfalls gemacht. Verletzungen des Kollegialitätsprinzips und Indiskretionen sind so alt wie der Bundesrat selber.
Aber in den meisten Fällen halten sich die Bundesräte ans Kollegialitätsprinzip?
Ja. In der allergrössten Mehrheit der Fälle ist das so. Der Bundesrat trifft jede Woche Hunderte von Entscheidungen. Nur in ganz wenigen Fällen werden schliesslich abweichende Meinungen bekannt.
Was bedeutet das für den Bundesrat, wenn Ueli Maurer öffentlich Kritik äussert? Ist das ein Stresstest für das Gremium?
Ja, das zeigt, dass es Spannungen im Bundesrat gibt. Es herrscht kein Konsens in der Regierung. Wichtig ist, dass die Entscheide trotzdem umgesetzt werden. Dass sich nicht zum Beispiel das Finanzministerium plötzlich querstellt und einen Entscheid des Bundesrates nicht mehr umsetzt. Und das ist bis jetzt meines Wissens nicht passiert.
Die SP wollte vom Gesamtbundesrat wissen, ob die Äusserungen Maurers mit dem Kollegialitätsprinzip vereinbar sind. Bundespräsident Guy Parmelin wollte darauf keine Antwort geben und verwies darauf, dass die Sitzungen vertraulich sind. Wie ordnen Sie Parmelins Vorgehen ein?
Parmelin hat vernünftig gehandelt. Es ergibt keinen Sinn, dass er einen Bundesratskollegen in der Öffentlichkeit kritisiert,
Wieso nicht?
Was soll denn das bringen? Es würde vielleicht für gewisse Parteien etwas bringen, weil sie damit Aufmerksamkeit generieren und die Sache weiter skandalisieren könnten. Einer Problemlösung ist dies aber sicher nicht zuträglich.
Zum Glück ging das Spiel gerade im Aargau nicht mehr auf. Hoffentlich lernt die SVP nichts daraus.
Da es hier "nur" um die Gesundheit der Gesamtbevölkerung und um das Zerbrechen der IPS ging, ist sein Verhalten umso fragwürdiger.
Aber sein Verhalten reflektiert den Schlingerkurs der SVP, welche einerseits Grenzschliessungen verlangt, andererseits "Alles Öffnen" schreit (naja seit dem Sommer hört man von Aeschi nichts mehr. Ausser dass es im Balkan super war...).
Widerspruch ist die einzige Konstante.