Wie lange ist diese Kuh noch heilig? Im vergangenen Jahrzehnt hat sich die landesweite Maturaquote bei 20 Prozent eingependelt. Nur einer aus fünf Jugendlichen schliesst somit das Gymnasium ab. Politiker, Ökonomen und Bildungsexperten sind zufrieden mit der 20-Prozent-Marke, sie ist das Geheimrezept im dualen Bildungstopf der Schweiz.
Und wenn doch geklagt wurde, dann weil ihnen die 20 Pro- zent zu hoch waren: «Ich hätte lieber weniger, dafür bessere Maturanden», liess Bundesrat Johann Schneider- Ammann mehrmals verlauten. Doch nun werden Stimmen laut, die von diesem Dogma abweichen wollen.
Für Antonio Loprieno, Präsident der Akademien der Wissenschaften Schweiz, ist die 20-Prozent-Marke nicht mehr zeitgemäss. «Die Schweiz braucht mehr Maturanden», sagt er im Gespräch. Es sei falsch zu denken, nur die besten Schüler sollten ans Gymnasium. «Wir brauchen die besten – und dann noch einige andere.»
Die Gesellschaft befinde sich im Wandel, der Trend gehe zur Wissensgesellschaft. Dies gelte besonders für die Schweiz. «Wir sind auf Ideen und Innovationen angewiesen.» Ideal wäre deshalb eine Maturaquote von 30 Prozent.
Loprieno hat die Schweizer Bildungslandschaft über Jahrzehnte geprägt. Er leitete die Universität Basel und war mehrere Jahre höchster Rektor der Schweiz. Noch heute sitzt er in Deutschland, Österreich und der Schweiz in verschiedenen Universitätsräten und ist seit Mai Präsident aller europäischen Akademien. «Durch die Digitalisierung sind heute andere Fähigkeiten gefragt.»
Dies zeige sich am Fachkräftemangel in der Wirtschaft oder an den Universitäten, die ihre Lehrstühle oft mit Bewerbern aus dem Ausland besetzten. Es mache keinen Sinn, sich zu beklagen, dass viele deutsche Professoren in der Schweiz lehren würden, gleichzeitig aber weniger Schweizer Jugendliche an den Gymnasien zu fordern, sagt Loprieno.
Kritik an der wachsenden Zahl von Akademikern weist Loprieno zurück. Mit 30 Prozent wäre die Schweiz noch immer weit von den Zahlen in Südeuropa oder Frankreich entfernt, wo teilweise 70 Prozent der Jugendlichen ans Gymnasium gehen. In diesen Ländern ist die Jugendarbeitslosigkeit besonders hoch. Für die Schweiz sieht Loprieno hingegen die Gefahr, den Anschluss zu verpassen, wenn die Quote nicht steigt.
Mit seiner Forderung dürfte Loprieno vor allem in der Westschweiz und im Tessin auf Zustimmung stossen. Dort sind die Maturaquoten höher als in der Deutschschweiz. In Genf liegt sie bei 29.4 Prozent, im Tessin bei 27.3 und in Neuenburg bei 23.9 Prozent. Ganz anders in vielen Kantonen der Deutschschweiz. In Bern (18.1%), Aargau (15.9%), oder Obwalden (11.0%) ist die Quote deutlich tiefer. Die Ausnahme bildet Basel-Stadt (siehe Tabelle).
Allerdings sind die kantonalen Unterschiede schon heute ein Problem. Wo Aufnahmeprüfungen oder Vornoten zählen, gibt es weniger Maturanden, dort wo Lehrer entscheiden, mehr. Das legt der Bildungsbericht des Bundes offen. Lehrmeister beklagen, dass Eltern ihre Kinder zu oft an die Kantonsschule drängten, obwohl sie dafür nicht geeignet sind. Die Folge: Hunderte Lehrstellen bleiben jedes Jahr unbesetzt.
Die Entwicklung führt zu kuriosen Debatten. Basel-Stadt streitet derzeit über zu viele gute Noten. Lehrer sollen künftig schlechtere Zeugnisse verteilen, weil ansonsten 45 Prozent der Jugendlichen ans Gymi wechseln könnten. Dabei wäre Basel-Stadt bei den Übertritten nicht mal Spitzenreiter.
In Genf geht gar die Hälfte der Jugendlichen ans Gymi. Allerdings fliegt ein Grossteil bereits nach einem Jahr wieder raus, was letztlich eine Maturaquote von 29.4 Prozent ergibt. Dabei lechzten Firmen nach begabten Lehrlingen.
Die Situation wird sich in den kommenden Jahren aber verbessern, da die Schülerzahlen erstmals seit 15 Jahren wieder steigen und bis 2025 ein Rekordhoch erreichen werden. Dass künftig andere Fähigkeiten gefragt sind als vor zehn Jahren, ist unbestritten.
Erst diese Woche hat der Bundesrat Informatik zum Pflichtfach am Gymnasium erklärt. Alle sollen codieren lernen. «Als Schüler in Europa wäre es wichtiger, dass ich Programmieren lerne als Englisch», sagte zuletzt auch Apple-CEO Tim Cook während eines Auftritts in Frankreich.
In Kantonen wie Zürich, Freiburg oder Basel-Stadt sind noch immer Sprachen das beliebteste Schwerpunktfach der Mittelschüler. Das könnte sich ändern. Gerade der Kanton Zürich, der mit der ETH eine der weltbesten technischen Hochschulen besitzt, hätte eigentlich beste Voraussetzungen für Talente aus Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik (MINT). Mittlerweile werden an Schulen Projekte zur Stärkung des MINT-Bereichs lanciert.
Schon Kleinkinder sollen gefördert werden. Auch der Bundesrat machte in seiner Botschaft «zur Förderung von Bildung, Forschung und Innovation 2017–2020» klar, dass die MINT-Fächer gepuscht werden müssten, um dem Arbeitsmarkt und den Herausforderungen der Zukunft gerecht zu werden.
Es sei richtig, dass sich heute zwei von drei Jugendlichen nach Abschluss der obligatorischen Schule für eine Lehre entscheiden, sagte Bundesrat Schneider-Ammann vor wenigen Tagen bei der Präsentation des Bildungsberichts. Doch er ergänzte: «Ob das auch in 20 Jahren noch gilt, lasse ich offen.» (aargauerzeitung.ch)