Schweiz
LGBTQIA+

Geschlechtsangleichende Operationen: Expertin im Interview.

Brustentfernung bei Minderjährigen? «Es gibt Kinder, die schon mit drei sagen, dass sie kein Mädchen oder Bub seien»

Mit der Forderung nach einem OP-Verbot für Minderjährige hat die Zürcher Gesundheitsdirektorin Natalie Rickli die Transgender-Debatte neu entfacht. Marie-Lou Nussbaum hat schon Dutzende trans Jugendliche begleitet. Im Interview erzählt sie, wie viel Mitsprache Eltern heute haben – und was für einen Eingriff unter 18 sprechen kann.
16.08.2025, 11:0516.08.2025, 11:05
Lea Hartmann / ch media
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Die Angelegenheit ist heikel, das zeigen die Rückmeldungen. Mehrere Spitäler, die Sprechstunden für trans Jugendliche anbieten, wollen sich derzeit nicht zum Thema äussern. Zu politisch aufgeladen ist es, nachdem die Zürcher Gesundheitsdirektorin Natalie Rickli die Forderung nach einem Verbot geschlechtsangleichender Operationen bei Minderjährigen aufs Tapet gebracht hat.

Geschlechtsangleichende Operationen wie die Entfernung der Brust, polarisieren (Symbolbild).
Geschlechtsangleichende Operationen wie die Entfernung der Brust, polarisieren (Symbolbild).Bild: Shutterstock

Auch Marie-Lou Nussbaum verfolgt die aktuellen politischen Diskussionen um trans Jugendliche – mit Besorgnis. Sie war zehn Jahre lang Co-Leiterin der Sprechstunde Geschlechtervielfalt an der Kinderklinik des Berner Inselspitals, bevor sie vor wenigen Monaten ganz in die Forschung wechselte. Sie doktoriert zur sozialen Wahrnehmung von Trans- und Intergeschlechtlichkeit.

Wie oft kamen Minderjährige zu Ihnen in die Sprechstunde, die den Wunsch hatten, eine geschlechtsangleichende Operation durchführen zu lassen?
In den vergangenen Jahren sind im Schnitt 30 bis 35 minderjährige Jugendliche zu einer Erstkonsultation gekommen – etwa zwei Drittel von ihnen mit einem konkreten Behandlungswunsch. Meist sind die Jugendlichen zwischen 15 und 17 Jahre alt. Und die allermeisten von ihnen sind trans männlich, identifizieren sich also als Mann. Sie wünschen sich in erster Linie, Testosteron nehmen zu können. Auch eine Brustabnahme ist oft Thema, doch ich habe die Erfahrung gemacht, dass die meisten zuerst einmal eine Hormontherapie machen und dann weiterschauen wollen. Wenn es dann konkret wird, sind sie meist schon volljährig.

Haben Sie aber auch schon Jugendliche begleitet, die sich schliesslich für eine OP vor 18 entschieden haben?
Ja – ich kann die Fälle aber an einer Hand abzählen. Es gibt Jugendliche, die keine Hormone nehmen wollen, aber ein sehr starkes Bedürfnis haben, die Brust entfernen zu lassen. Rechtlich entscheidend ist nicht das Alter, sondern, ob jemand urteilsfähig ist. Genitaloperationen sind mir bei Minderjährigen keine bekannt. Alle Leitlinien, die es gibt, sehen ein Mindestalter von 18 Jahren vor.

Der Vorwurf steht im Raum, dass Ärztinnen und Psychologen übereilte Diagnosen treffen und vorschnell Behandlungen durchführen würden. Was sagen Sie dazu?
Der Vorwurf macht mich und meine Kolleginnen betroffen. Viele meiner Kolleginnen machen diese Arbeit schon jahre-, teilweise jahrzehntelang, setzen sich intensiv mit Transidentität auseinander. Wir haben keinerlei Interesse daran, einen oder eine trans Jugendliche zu einer Behandlung zu drängen. Vielmehr müssen wir einen Entscheid fällen, der richtig ist für die Person – für den Moment, aber natürlich auch langfristig. Wir diskutieren das mit den Jugendlichen und den Eltern: Was, wenn du den Eingriff, die Behandlung in fünf oder zehn Jahren bereust? Einige Jugendliche sagen dann, das sei ihnen egal – weil der Leidensdruck jetzt gerade so gross ist. Doch uns Behandlerinnen ist das überhaupt nicht egal. Ich hatte riesigen Respekt davor, einen falschen Entscheid zu treffen.

«Wir haben keinerlei Interesse daran, einen oder eine trans Jugendliche zu einer Behandlung zu drängen», sagt Expertin Marie-Lou Nussbaum (Symbolbild).
«Wir haben keinerlei Interesse daran, einen oder eine trans Jugendliche zu einer Behandlung zu drängen», sagt Expertin Marie-Lou Nussbaum (Symbolbild).Bild: Shutterstock

Welche Kriterien müssen erfüllt sein, damit eine Behandlung mit Hormonen oder ein Eingriff überhaupt infrage kommt?
Voraussetzung ist eine gesicherte Diagnose, dass jemand überdauernd trans ist. Ausserdem muss ein Jugendlicher urteilsfähig in Bezug auf die gewünschte Behandlung sein. Eine psychotherapeutische Begleitung dauert Monate, manchmal sogar mehrere Jahre. Viele Jugendliche sind dankbar, psychologisch begleitet zu werden. Sie fühlen sich überfordert von ihrer Situation. Viele sagen mir, dass sie viel dafür geben würden, «normal» zu sein.

Wie wird so eine Diagnose gestellt?
Man macht erst einmal eine Anamnese, blickt mit den Jugendlichen zurück. Wann sind in Bezug auf die Geschlechtsidentität erste Zweifel aufgekommen? Auch die Eltern werden befragt. Schwieriger ist es, wenn das Thema bei einem Jugendlichen erst spät in oder nach der Pubertät aufkommt. In diesen Fällen probieren wir eine Behandlung möglichst lange hinauszuzögern.

Weil Sie unsicher sind, ob es einfach eine Phase ist?
Genau. Denn wir wissen, dass sich Wünsche nach Veränderungen am Körper im Verlauf des Erwachsenwerdens ändern können. Häufig beschäftigt die Kinder die Geschlechtsinkongruenz aber schon mehrere Jahre. Es gibt Kinder, die schon im Alter von 3 oder 4 Jahren klar zum Ausdruck bringen, dass sie kein Mädchen oder Bub seien. Das ist eindrücklich.

Oft ist das Trans-Sein mit psychischen Problemen verbunden, hat man den Eindruck.
Das ist so. Viele trans Jugendliche haben beispielsweise depressive Episoden oder leiden an Angststörungen, einige haben Suizidgedanken. Darum machen wir immer auch eine allgemeine psychologische Diagnostik. Wir wollen ausserdem verstehen, ob es eine psychische Störung gibt, die der Grund für die Geschlechtsinkongruenz sein könnte – zum Beispiel ein Trauma.

Wie viel Mitsprache haben die Eltern?
Die Eltern werden immer miteinbezogen. In die Sprechstunde in Bern können Kinder nur in Begleitung einer erziehungsberechtigten Person – oder, im Ausnahmefall, einer anderen engen Bezugsperson – kommen. Es gibt Eltern, die sagen, dass sie eine Brustabnahme nicht mittragen können. Ist ein Kind urteilsfähig, dann ist eine Behandlung auch ohne Zustimmung der Eltern möglich. Das ist jedoch nicht unser Ziel. Viele Kinder können die Sorgen ihrer Eltern nachvollziehen und warten dann von sich aus vorerst zu. Ein Eingriff ohne Zustimmung der Eltern ist sehr selten.

Was spricht dafür, bereits bei einer minderjährigen Person die Brüste zu entfernen?
Manchmal ist der Leidensdruck so gross, dass Jugendliche nicht bis 18 warten können. Ich erinnere mich an ein eindrückliches Gespräch mit einem jungen trans Mann. Ich machte mir Sorgen, einen Behandlungsentscheid zu fällen, den er später bereut. Er sagte mir, dass auch er diese Sorge habe. Doch er könne mit Brüsten nicht weiterleben. Es gehe einfach nicht. In diesem Fall haben wir gemeinsam entschieden, den Schritt zu gehen. Zum Zeitpunkt des Eingriffs war er 18 Jahre alt.

Alternativen zu einem irreversiblen Eingriff sind Pubertätsblocker oder Hormontherapien. Was ist der Unterschied?
Die Einnahme von Pubertätsblockern ist eine Möglichkeit, wenn eine Geschlechtsinkongruenz schon bei Beginn der Pubertät festgestellt wird. Die Medikamente können beispielsweise den Stimmbruch verhindern. Gerade die tiefe Stimme ist für trans Frauen ein grosses Stigma. Und da kann es sein, dass man relativ schnell handeln muss. Die Blockadetherapie beginnt immer erst nach Beginn der Pubertät, weil in dieser Zeit auch sehr wichtige emotionale Entwicklungen stattfinden. Bei den meisten Jugendlichen, die in die Sprechstunde kommen, ist es für Pubertätsblocker allerdings schon eher spät. In diesen Fällen kann eine Hormonbehandlung eine Option sein, also die Einnahme von Testosteron oder Östrogen.

Unter welchen Umständen ergibt es Sinn, eine Hormontherapie schon unter 18 zu beginnen?
Wenn wir zum Schluss kommen, dass der Leidensdruck so gross ist, dass man nicht zuwarten kann, und jemand urteilsfähig ist, kann eine Behandlung auch schon mit 16 infrage kommen. In diesem Zusammenhang ist interessant, was einige erwachsene trans Personen, die keine Behandlung gemacht haben, im Rückblick erzählen: Als sie jung waren, hätten sie die Brust am liebsten sofort entfernen lassen. Doch je älter sie wurden, desto mehr haben sie sich damit arrangiert, sich selbst akzeptiert, so wie sie sind. Im jugendlichen Alter ist das schwieriger.

Was für das Argument spricht, dass man mit 16 einfach noch nicht reif genug ist, so einen einschneidenden Entscheid zu treffen.
Ja, es gibt Jugendliche, die noch nicht reif genug sind. Doch es gibt durchaus 16-Jährige, die mit Hilfe ihrer Eltern und uns Fachpersonen einen urteilsfähigen Entscheid treffen können. Jugendliche, die sich sehr differenziert mit dem Thema auseinandersetzen und sich des Risikos bewusst sind, möglicherweise einen Entscheid zu treffen, den sie im Nachhinein anders fällen würden.

Gibt es Zahlen, wie viele Erwachsene rückblickend eine Behandlung oder einen Eingriff bereuen?
Studien zeigen, dass es nur sehr wenige sind. Wir sprechen von einem Anteil im tiefen einstelligen Prozentbereich. Aber natürlich: Auch wenn es wenige Fälle sind, ist es für die Betroffenen sehr belastend. Doch man muss den Faktor Zeit berücksichtigen – und sich fragen: Hätte ich damals wirklich anders entscheiden können? Oder beurteile ich es jetzt aufgrund meiner Lebenserfahrung anders?  Das ist möglich. Um sich auf eine solche Situation vorzubereiten, empfehlen wir den Jugendlichen, aufzuschreiben, weshalb sie sich für eine Behandlung entschieden haben. Diese Gründe können sie dann später wieder hervornehmen.

Die Zürcher Gesundheitsdirektion will nun neue fachliche Standards entwickeln für die Diagnostik und Versorgung von Transpersonen. Fehlen diese heute?
Nein, wir halten uns schon lange an internationale Richtlinien. Zudem gibt es Empfehlungen der Nationalen Ethikkommission. Im Juni haben die Fachgesellschaften in Deutschland, Österreich und der Schweiz ausserdem neue, gemeinsame Leitlinien verabschiedet für die Behandlung von trans Kindern und Jugendlichen. Das ist eine grosse Errungenschaft. Ich kann nicht nachvollziehen, weshalb weitere Standards ausgearbeitet werden sollen.

Welche Folgen hätte aus Ihrer Sicht ein generelles Verbot geschlechtsangleichender Operationen bei Minderjährigen für trans Jugendliche und das Fachpersonal?
Einige trans Jugendliche und ihre Familien würde ein Verbot empfindlich treffen. Ich denke an Jugendliche, die sich schon lange sehr unwohl fühlen in ihrem Körper. Das sind wenige Fälle, doch für sie wäre ein Verbot einschneidend. Mich würde ein solches Verbot aber auch beunruhigen, weil es ein Angriff auf die Selbstbestimmung ist. Jetzt geht es um trans Personen, was kommt als Nächstes? Ich denke an Schwangerschaftsabbrüche oder Sterbehilfe. Befürworter eines Verbots argumentieren mit dem Schutz von trans Jugendlichen. Doch wenn diese Schutz benötigen, dann ist es vor Diskriminierung und Gewalt. (aargauerzeitung.ch)

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96 Kommentare
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Truth Hurts
16.08.2025 12:02registriert Mai 2016
"Es gibt Kinder, die schon im Alter von 3 oder 4 Jahren klar zum Ausdruck bringen, dass sie kein Mädchen oder Bub seien."

Jeder, der mit Kindern in diesem Alter zu tun hat, weiss, dass solche Aussagen nicht im Geringsten ernstzunehmen sind.
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Sonnenblümchen
16.08.2025 13:06registriert November 2023
Als ich 16 war, wollte ich blaue Augen statt braune und meine Nase operieren. Bin dann rein gewachsen und liebe beides an mir. Logisch gibt es solche, die es nie bereuen, aber ich finde, man sollte schon plus 16 sein, bevor man sich operativ und hormonell ändern kann.
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NoraDrenalin
16.08.2025 12:53registriert Mai 2014
Mir tun diese Kinder so leid, die sich so falsch in ihrem eigenen Körper fühlen.ä 💔Möchte mir gar nicht vorstellen, wie schlimm das ist.
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