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Wie Gott aus der Schweizer Politik verschwunden ist

Wie Gott aus der Schweizer Politik verschwunden ist

175 Jahre nach dem Ende des Schweizer Glaubenskriegs spielt die Religion ausserhalb des Privaten kaum eine Rolle mehr – im Gegensatz zu anderen Ländern Europas und den USA. Stattdessen nehmen Debatten zu Gender- oder Umweltfragen quasi-religiöse Züge an. Diese Verschiebung könnte zu einem überraschenden Profiteur führen.
30.07.2023, 16:28
Benjamin Rosch und Patrik Müller / ch media
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Wo ist Gott geblieben? 175 Jahre nachdem katholische Kantone und die protestantischen Liberalen blutig um die Macht im Land stritten, präsentiert sich die Schweiz so konfessionslos wie nie zuvor. Jede dritte Person in der Schweiz bekennt sich zu keiner der beiden Landeskirchen. Und es ist abzusehen, dass diese Bevölkerungsgruppe die dominierende wird. Der Kulturkampf, an den in zahllosen 1.-August-Reden erinnert werden wird, hat jegliche Bedeutung verloren.

Erinnerungsblatt an das Inkrafttreten der ersten Bundesverfassung am 12. September 1848.
Bundesverfassung der Eidgenossenschaft vom 12. September 1848, mit allegorischer Figurengruppe.Bild: wikipedia/pd

Wie sehr, zeigt der nahende Wahlherbst. Erstmals tritt keine Partei mit einem «C» (CVP) oder einem «K» (Katholisch-Konservativ) im Namen an. Die Mitte-Partei, erstanden aus der Zweckehe von CVP und BDP, hat ihren religiösen Mantel abgestreift.

Umfragen deuten darauf hin, dass die Marken-Strategie der einstigen CVP aufgehen, ja dass sie sogar erstmals die ewige Rivalin FDP einholen könnte. Es wäre eine unerwartete Pointe der Schweizer Geschichte: Im Jubiläumsjahr des Sonderbundskriegs überholen die Christdemokraten den Freisinn - weil sie inzwischen selbst von der Religion abgekommen sind.

Sonderbundeskrieg – was ist das denn?

Nationen werden meist aus Kriegen geboren, das war in der Schweiz nicht anders. Auch wenn es sich im Fall der Eidgenossenschaft um einen «very civil war» handelte, einen sehr moderat geführten Bürgerkrieg. So bemerkte es einst der Historiker Joe Remak. Dennoch hat der Sonderbundskrieg die Schweiz tiefgreifend verändert, ja eigentlich neu geschaffen.

An seinem Ende stand die Bundesverfassung von 1848, die dem Land bis heute als Rückgrat dient. Die Arbeitsteilung von Bund und Kantonen, das Zweikammer-System, das Einbinden von Minderheiten im Bundesrat, die Freiheitsrechte - das sind die Früchte der Auseinandersetzung zwischen Katholiken und Freisinnigen. Der Föderalismus war das zentrale Zugeständnis an die zwar unterlegenen, aber noch immer gefährlichen katholisch-konservativen Sonderbündler, um den Frieden auf Jahrzehnte zu zementieren. Dieser Plan ist aufgegangen.

Wie gut eine Schlichtung gelingt, zeigt sich darin, dass man irgendwann den vorhergegangenen Streit vergisst. In der Schweiz scheinen der Sonderbundskrieg und die Nachwehen derart in Vergessenheit geraten zu sein, dass sich Historiker und Pädagoginnen schon fast Sorgen über diese Wissenslücke machen.

Zwar verlor mit der Industrialisierung in ganz Europa die Kirche an Einfluss. Aber in der Schweiz sind Politik und Glaube noch stärker voneinander entfremdet als anderswo. In Deutschland etwa ist unvorstellbar, dass die CDU/CSU ihr «C» aufgibt. Das Christliche im Parteinamen wurzelt dort im Antitotalitarismus nach der Hitler-Diktatur: Es steht für eine neue, antifaschistische Ära. Im Unterschied zur Schweizer CVP, die immer katholisch geprägt war, gelang es der deutschen Union, stets Katholiken wie Protestanten gleichermassen anzusprechen.

Ein europäischer Sonderfall

Vanessa Kopplin ist Oberassistentin am Religionswissenschaftlichen Seminar der Universität Zürich. Für ihre Doktorarbeit hat sie unter anderem den Einfluss von Religiosität auf politische Entscheide in Deutschland, Österreich und der Schweiz untersucht. Sie kommt zum Schluss: «Die Schweiz ist ein Sonderfall.» Die enge Fokussierung auf den Glauben als Privatsache sei aussergewöhnlich. «Religiosität wird in der Schweiz eher versteckt, obwohl das religiöse Werteverständnis das politische Handeln natürlich mitbestimmt», sagt Kopplin.

In anderen europäischen Ländern waren oder sind immer wieder Politiker an der Macht, die ihren christlichen Hintergrund offensiv in ihre Entscheide einfliessen liessen. Unvergessen, wie die damalige CDU-Bundeskanzlerin Angela Merkel die deutsche Willkommenskultur in der Flüchtlingskrise mit ihrem Glauben begründete: Migrationspolitik aus Nächstenliebe.

In Österreich positioniert sich die ÖVP nach wie vor christlich-konservativ, Jungstar Sebastian Kurz sagte immer wieder: «Mein Glaube ist mir wichtig.» Als in Grossbritannien der damalige Premier Boris Johnson zum dritten Mal heiratete - in einer katholischen Kirche -, bot dies Anlass zu öffentlichen Diskussionen um seine Spiritualität. Selbst im laizistischen Frankreich betonen viele Politiker die Bedeutung ihres Glaubens, das war im Besonderen beim früheren Präsidenten Nicolas Sarkozy der Fall.

Auf der anderen Seite des Atlantiks hat bei Wahlen die Religion sogar an Bedeutung gewonnen: Seit vor knapp zehn Jahren Donald Trump die politische Arena betrat, setzen die Republikaner konsequent auf die Stimmen der Evangelikalen - und fanden so aus ihrem Tief. Trumps demokratischer Nachfolger Joe Biden wiederum ist bekennender Katholik - nach Kennedy der zweite in der Geschichte der USA.

Katholische Mehrheit im Bundesrat – so what?

Und in der Schweiz? Keine Spur von solcherlei Bekenntniszwang. Die Konfession der Bundesratsmitglieder interessiert höchstens noch anekdotisch. Es erschienen bloss kleinere Zeitungsberichte, als 2019 mit Viola Amherd (CVP/Mitte) und Karin Keller-Sutter (FDP) zwei Katholikinnen in die Landesregierung einzogen – und somit die Mehrheit der Protestanten gebrochen wurde. So what? Bei Bundesratswahlen werden inzwischen alle geografischen und identitätspolitischen Merkmale rauf- und runterdiskutiert – nicht aber die Konfession.

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Bild: screenshot ch-media

Immer wieder gab es Versuche in der Politik, die Religiosität wiederzubeleben. Die meisten davon scheiterten kläglich. Zuletzt zwei Initiativen, welche die Abtreibungsrechte der Frauen beschneiden wollten – nach amerikanischem Vorbild, wo das höchste Gericht im vergangenen Jahr das Rad der Zeit zurückgedreht hat.

Das Thema, das in den USA den Präsidentschaftswahlkampf 2024 beeinflussen wird, bewegt in der Schweiz kaum jemanden. Die Abtreibungsinitiativen versandeten bereits im Sammelstadium, keine Partei sah hier ein Profilierungspotenzial.

Dass diese Entspanntheit eine eher neuere Erscheinung ist, zeigt die Debatte um die «Ehe für alle». Über Jahrzehnte scheiterten alle Versuche, die Ehe auch für Homosexuelle zu öffnen. Dann, im September 2021, kam es zur Volksabstimmung. Der Abstimmungskampf verlief wenig polemisch, und am Ende stimmten fast zwei Drittel mit «Ja». Zwar liessen sich Spuren des Kulturkampfes noch in den kantonalen Prozentanteilen ablesen, doch selbst die üblicherweise konservativsten Stände Appenzell Innerrhoden und Schwyz stimmten mehrheitlich zu.

Richtung Mekka beten in der Armee

Wie aber passt in dieses Bild, dass kürzlich ein Foto von Schweizer Rekruten, die zum muslimischen Gebet niederknien, in den sozialen Medien für Aufregung sorgte? Liest man die Kommentare, wird klar: Es geht weniger um die Bedrohung einer christlich-abendländischen Kultur, wie sie sich in Deutschland beispielsweise in Pegida-Demos Bahn brach. Was stört, ist vielmehr das Zur-Schau-Stellen des Glaubens.

Um den Beginn des islamischen Opferfests Bayram zu begehen, hat die Schweizer Armee eine muslimische Feldpredigt abgehalten. SVP-Glarner reagiert empört, GLP-Flach reagiert trocken.
Betende Muslime in der Armee: Glaube soll Privatsache sein, darum provozierte das Foto viele negative Reaktionen

Betende Muslime, im Hintergrund nicht-muslimische Armeeangehörige in Ruhn-Stellung, die zuschauen (müssen): Das hat viele irritiert. Womöglich ist diese Reaktion eben gerade ein Ausdruck der Säkularisierung der Schweiz, und kein Widerspruch. Man mag keine Inszenierung des Glaubens.

Der Parteipraesident der Mitte Partei Schweiz, Gerhard Pfister bei seiner Rede, anlaesslich des Sommerparteitag der Die Mitte Partei vom Samstag, 24. Juni 2023 in Sursee. (KEYSTONE/Urs Flueeler).
Gerhard Pfister schaltete sich via Twitter ein.Bild: keystone

Wenig überraschend war, dass die SVP das Foto für eine Social-Media-Kampagne nutzte («Was kommt als Nächstes? Kinderehen, Scharia-Gerichte, Steinigungen?»). Da überraschte mehr, wie schnell ihre Wirkung wieder verpuffte. Vielsagend für den Wandel im katholischen Milieu war die Reaktion von Mitte-Präsident Gerhard Pfister, der sich ungefragt via Twitter einschaltete: «Wenn diese Soldaten bereit sind, sich selbst und nötigenfalls sogar ihr Leben für die Verteidigung der Schweiz einzusetzen, dann dürfen sie von mir aus so viel beten, wie sie wollen, zu wem auch immer.»

Pfister hat sich beim Markenwechsel von CVP zu Mitte intensiv mit der Säkularisierung der Schweiz auseinandergesetzt. Sie habe sich durch das Zweite Vatikanische Konzil beschleunigt und sei nun «vollendet», sagt er. Die Umbenennung und Öffnung der Partei sei unumgänglich geworden: «Die Wahrnehmung der CVP als katholische Partei ist zu einem Ausschlusskriterium geworden, und zugleich hat die Bindungskraft im ursprünglichen Milieu abgenommen.»

Hochrisiko-Strategie der FDP

Die positiven Umfragewerte für die Wahlen im Herbst spielt Pfister eher herunter. Das seien nur Umfragen, betont er bei jeder Gelegenheit, wohl um die Erwartungen tief zu halten. «Aber natürlich motivieren uns die Zahlen», sagt Pfister. In früheren Wahlen sei man immer aus der Defensive heraus gestartet, jetzt habe man das Verlierer-Image überwunden.

Was geschähe, wenn die Mitte mit dem Freisinn gleichzieht oder diesen überholt? Pfister mag sich nicht auf die Frage einlassen. Hellhörig hat ihn aber eine Aussage von FDP-Präsident Thierry Burkart gemacht. Bei Radio SRF sagte er jüngst explizit, er stehe zur Konkordanz nach der Logik: Zwei Bundesratssitze für die drei wählerstärksten Parteien, einen für die viertstärkste Kraft. Pfister kommentiert das so: «Sollten wir am Abend des Wahlsonntags auf dem Podest stehen, werden wir sehen, ob Burkart dabei bleibt.»

Die CVP hatte ihren zweiten Sitz 2003 an die SVP verloren, der es damals gelang, Christoph Blocher zu Lasten von Ruth Metzler in die Regierung zu hieven. Die FDP hingegen hatte noch nie weniger als zwei Bundesräte; bei der Gründung des Bundesstaats 1848 stellte sie alle sieben Regierungsmitglieder, den Katholisch-Konservativen räumte die freisinnige Staatspartei 1891 den ersten Sitz ein.

Identitätsfragen flammen neu auf

Ob die Neupositionierung von Pfisters Partei diese langfristig rettet, bleibt offen. Sie wettet darauf, dass es zwischen den Polen ein starkes Segment gibt, dass sich von der «Werte-Orientierung» und Slogans wie «Wir halten die Schweiz zusammen» angesprochen fühlt, auch wenn sie vage und unkonkret klingen. Pfister: «Mit der Säkularisierung sind die religiösen Orientierungen verschwunden, aber nicht die Fragen nach Identität und gemeinsamen gesellschaftlichen Werten.»

Jetzt frage sich, wer das Verbindende schaffe. «Heute hält jede Gruppe ihre individuelle Überzeugung für die einzig richtige, und betont nur die eigene Individualität.» Das fördere die Polarisierung und verhindere den Diskurs, den eine lebendigen Demokratie benötige. Dafür müssten nun die politischen Kräfte und auch die Medien sorgen, findet Pfister.

Identitätsfragen werden heute vor allem von den Pol-Parteien bewirtschaftet. Gender-Themen, etwa das Gender-Sternchen, werden links wie rechts zu Grundsatzfragen der Gleichberechtigung oder aber der Redefreiheit erhoben. In den USA spricht man längst von einem «culture war», einem Kulturkampf. Das Wort findet ungeachtet seiner historischen Vorbelastung in der Schweiz auch hierzulande wieder Verwendung, wie jüngst die Kontroverse um den Gender-Tag in Stäfa bewies.

Quasi-religiös wird auch die Debatte über sexuelle Identitäten und ihrer angeblicher Benachteiligung (wie es von links tönt) oder Privilegierung (wie es von rechts tönt) geführt. Mit dem Bedeutungsverlust der Kirche geht eine Fragmentierung der moralischen Instanz einher. Statt nur der Pfarrer auf der Kanzel predigen heute mehr denn je Interessengruppen, was richtig und falsch sein soll.

Grüne und grünliberale Religionen

Offensichtlich ist dies in der Gesellschaftspolitik. Von den Parteien ist es vielleicht den Grünliberalen am besten gelungen, dieses brachliegende Feld zu besetzen. Mit Elternzeit, Eizellenspende und der Ehe für alle übersetzen sie das christlich geprägte Familienmodell in einen Kult der Urbanität. Aber auch das Verzichts-Mantra der Grünen trägt parareligiöse Züge.

Eine Auswertung der Universität Zürich hat es diese Woche gezeigt: Parteien brauchen, um die Bevölkerung zu erreichen, vor allem eines: Erzählungen.

Eine der erfolgreichsten Erzählungen, die überdauert hat, zeichnet das Bild der Wehrhaften gegen fremde Mächte. Es passte im Kulturkampf 1848 sowohl zu den Christdemokraten wie auch den Liberalen und schweisste die vom Bürgerkrieg versehrte Schweiz zusammen. Tell und Winkelried wurden zu Ikonen einer souveränen Schweiz. In dieser Erzählung spielte Gott schon damals nur eine untergeordnete Rolle. Im Wahljahr 2023 kommt er nirgends mehr vor. (aargauerzeitung.ch)

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65 Kommentare
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Nordkantonler
30.07.2023 16:49registriert September 2020
"175 Jahre nach dem Ende des Schweizer Glaubenskriegs spielt die Religion ausserhalb des Privaten kaum eine Rolle mehr"

Das sehen die Steuerämter landauf und landab allerdings anders.
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MALUS
30.07.2023 17:13registriert Januar 2021
Ich finde nicht das Gott aus der Politik verschwunden ist.

Millionen für die Pontifikalarmee wurden durch die Politik am Volk vorbei in den Vatikan gepumpt. (In Luzern war es nicht möglich, da es zu einer Abstimmung kam.)

Juristische Personen können in der Schweiz nicht aus der Kirche austreten – sie können sich nicht auf die Religionsfreiheit berufen. Von Wahlen zu Wahlen liefern sie den bevorzugten Sekten über 1'000'000’000.00 CHF Kirchensteuern ab. Mit staatlicher Inkassohilfe.

Stadt Bern unterstütz Zwangsehen-Moschee weiterhin mit Steuergeld.

Etc.
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Raber
30.07.2023 17:17registriert Januar 2019
Ein angenehm ausgeglichener Artikel,danke. Ähnlich wie die Schreibenden, empfinde ich einige politische Standpunkte.respektive wie darüber gesprochen wird,als quasi religiöser Ersatz. Viele die vor 100Jahren noch ihren Halt und Aktivismus in der Religion gefunden hätten,sich in ähnlicher Weise jetzt politisch Engagieren. Leider nicht mit positivem Ergebnis,denn viele Ansichten werden sehr dogmatisch vertreten. Jemand der glaubt,im absouluten Wissen zu sein,sieht in anderen Ansichten einen Feind/Ketzer und nicht eine Bereicherung. Dies zerstört auf Dauer die politische Debatte.
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