«Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott. Im Anfang war es bei Gott. Alles ist durch das Wort geworden und ohne das Wort wurde nichts, was geworden ist», heisst es in der Bibel bei Johannes 1,1.
Übersetzt bedeutet dies in etwa: Im Wort, oder mindestens bei Gott, liegt die Wahrheit. Das klingt zwar schön, enthält aber einen fatalen Irrtum. Mit Worten werden Sätze gebildet, Sätze führen zu Aussagen. Und nichts ist so fehleranfällig wie das menschliche Hirn, das uns befähigt, Aussagen zu machen.
Kein vernünftiger Mensch zweifelt heute daran, dass im säkularen Bereich der Glaube an eine absolute Wahrheit ein Mythos ist. Selbst in den Naturwissenschaften ist vieles relativ. Eine Erkenntnis ist so lang die «Wahrheit», bis sie durch neue Forschungsergebnisse ersetzt wird.
Was für die Wissenschaften gilt, trifft in erhöhtem Mass auch für den Glauben zu. Eine Definition von Glauben heisst denn auch, etwas «für wahr halten». Wer sagt, er glaube, dass es heute Abend noch regnen wird, bringt zum Ausdruck, dass er nicht sicher ist. Dabei kann er sich immerhin auf die Wetterprognose abstützen.
Ganz anders sieht es hingegen beim religiösen oder spirituellen Glauben aus. Viele Gläubige halten ihren Glauben für die Wahrheit – die letzte, die absolute. Sie müssen glauben, dass ihre Glaubensgemeinschaft oder Sekte die Hüterin der wahren Heilslehre ist.
Bei Zweifeln stürzt das ganze Glaubenskonstrukt in sich zusammen. Und damit die Hoffnung auf eine Erlösung und ein Leben nach dem Tod. Dieser Hoffnung opfern viele die Erkenntnis, dass es die Wahrheit im religiösen Sinn nicht gibt.
Die Krux beginnt schon im Kern des Glaubens. Obwohl Gläubige seit Jahrhunderten versuchen, den Gottesbeweis zu erbringen, stochern sie weiter im Dunkeln. Moslems ebenso wie Juden und Christen. Das Gleiche gilt für den überladenen Götterhimmel der Hindus.
Das kümmert viele Geistliche nicht, ihren Glauben unbeirrt als den wahren zu reklamieren. Einen Glauben, der Gott als absolute Realität versteht und verkündet. Das klingt dann in einem Video der freikirchlichen Plattform ERF mit dem Titel «Mensch Gott» so:
Der religiöse Glaube ist zwangsläufig an einen Absolutheitsanspruch gebunden, der keine Abweichungen und Kompromisse zulässt. Dieses starre System fördert die Radikalisierung von enthusiastischen Gläubigen, schliesslich geht es um das Höchste und Letzte. Das birgt die Gefahr des Fanatismus in sich. In allen Heilslehren, Glaubensgemeinschaften und vor allem in Sekten steckt also ein sektenhafter Kern.
Es wäre deshalb Aufgabe der Geistlichen und religiösen Führer, die Gläubigen auf die Gefahren der Radikalisierung aufmerksam zu machen. Doch die meisten hüten sich davor, ihre Schäfchen zu sensibilisieren. Sie könnten schliesslich erkennen, dass es mit der Wahrheit des Glaubens doch nicht so weit her ist.
Der französische Philosoph André Comte-Sponville meinte deshalb: «Wer an Gott glaubt, begeht die Sünde des Hochmutes.» Ohne Hochmut wären die Menschen aber toleranter, die Welt erschiene friedlicher.
Wie relativ auch Glaubenswahrheiten sind, zeigt sich im Umstand, dass es weltweit über 100'000 religiöse Bewegungen und Religionen gibt. Alle nehmen für sich in Anspruch, den einzig wahren Gott, die einzig wahre Heilslehre zu vertreten.
Diese vielen Götter haben unterschiedliche Gesichter und oft nichts miteinander gemein. Also liegen 99'999 falsch. Doch wer entscheidet, welcher Geistliche oder Guru den wahren Glauben gefunden hat?
Fragen über Fragen. Die Antworten darauf sind kaum göttlich, sondern menschlich. Meist allzu menschlich.