Erstmals geteilt wurden Ausschnitte aus dem Kapo-Ratgeber auf dem Instagram-Kanal von «love.me.gender». So beispielsweise auch diese Passage:
Die Ausschnitte wurden mit dem Femizid an Sarah Everard in Kontext gesetzt, um die Problematik der Aussagen zu verdeutlichen. Bei der Ermordung von Sarah Everard handelt es sich um den Fall einer jungen Engländerin, welche nachts auf dem Nachhauseweg vermutlich gekidnappt und ermordet wurde.
Vor diesem Hintergrund habe dieser Ratgeber umso mehr für Frustration gesorgt, sagt die grünliberale Politikerin Carla Reinhard, welche den Beitrag schliesslich auf Twitter teilte und eine Welle der Empörung auslöste:
Frauen müssen nicht weniger trinken, Männer müssen weniger Frauen belästigen @kapoSG - wo bleibt der Männerratgeber? Via lovemegender auf Insta #textmewhenyougethome pic.twitter.com/ftKplmprfW
— Carla Reinhard (@carla_fabienne) March 13, 2021
Gegenüber watson sagt sie:
Der Beitrag der Kantonspolizei St. Gallen war gemäss eigener Aussagen gut gemeint. Dennoch lässt die Umsetzung zu wünschen übrig, findet Reinhard:
Eingeleitet wird der Ratgeber mit folgenden Worten:
Darauf folgen Tipps, wie Frauen sexuelle Übergriffe vermeiden können. Beispielsweise indem sie nicht zu viel Alkohol trinken:
Auch selbstbewusstes Auftreten sei wichtig. Denn vor allem unsichere Frauen werden Opfer von Belästigungen, glaubt die Kapo SG zu wissen:
Mit solchen Verhaltens-Tipps werde den betroffenen Frauen die Verantwortung für solche Übergriffe übergeben, sagt Monica Reinhart von der Opferhilfe St. Gallen auf Nachfrage. Solche Übergriffe würden nicht durch Alkoholkonsum oder durch Kleidung provoziert. Kurzum:
Der Ratgeber ziele zudem vor allem auf das eine Szenario ab, bei dem die Frau im öffentlichen Raum von einem Fremdtäter belästigt wird. Doch am meisten trete sexualisierte Gewalt im Umfeld der betroffenen Frau auf, wobei das Vertrauensverhältnis vom Täter ausgenutzt wird.
Häufig gerät das Opfer während eines Übergriffes in eine sogenannte Schockstarre, welche es ihm verunmöglicht, sich zu bewegen, zu schreien, ja, sich zu wehren. Diese Schockstarre mache auch vor selbstbewussten Frauen nicht halt, so Reinhart. Ganz grundsätzlich hätten sexuelle Übergriffe nichts mit dem Selbstbewusstsein der Frau zu tun, wie das der Ratgeber suggeriert.
Einen Tag nach dem Auftauchen des Ratgebers auf Twitter meldete sich die Kantonspolizei St. Gallen zu Wort:
Liebe Community. Wir haben den Ratgeber vom Netz genommen. Es tut uns leid, dass wir beim Verfassen dieser Tipps nur Frauen in der Opferrolle angesprochen haben. Der Ratgeber ist schon mehrere Jahre alt.
— Kantonspolizei St.Gallen (@kapoSG) March 14, 2021
Sie entschuldigt sich für die problematische Darstellung und sieht ein, dass der Ratgeber eine Überarbeitung benötigt habe:
Es wurde übersehen, dass dieser hätte angepasst werden sollen. Die Kapo SG stellt sich klar gegen Victim-Blaming oder das Schüren von Mythen.
— Kantonspolizei St.Gallen (@kapoSG) March 14, 2021
In einer Stellungnahme gegenüber watson schreibt die Kapo zudem:
Sämtliche präventiven Ratgeber auf der Homepage würden dahingehend überprüft werden, schreiben sie weiter.
Dass mehr gegen sexualisierte Gewalt gegenüber Frauen getan werden muss, scheint angesichts der Bemühungen der Kapo SG klar zu sein. Allerdings verfolge man den falschen Ansatz, wenn man nur den Frauen die Verantwortung dafür übergibt, findet die Politikerin Reinhard:
Wie eine Studie im Jahr 2019 ergeben hat, wurde ungefähr jede fünfte Frau in der Schweiz schon einmal zu sexuellen Handlungen gezwungen – auf die gesamte weibliche Bevölkerung der Schweiz hochgerechnet entspricht dies 430'000 Frauen. Reinhart verweist auf diese Studie und greift einen Punkt auf, der offenbar häufig vergessen geht:
Daraus ergibt sich gemäss Reinhart vor allem Handlungsbedarf in der Gewaltprävention. Man müsse sehr früh mit Bildung und Sensibilisierung ansetzen und aufzeigen, wie man mit Bedürfnissen umgeht, wenn sie vom Gegenüber abgelehnt werden. Und das gehe alle etwas an, so Reinhart:
Aus diesem Grund sei es auch schwierig, den Frauen nützliche Verhaltens-Tipps mitzugeben, sagt Reinhart. Wichtig sei vor allem, dass die Frauen ihrer Wahrnehmung trauen. Wenn sie den Eindruck hätten, sich in eine gefährliche Situation zu begeben, so sollen sie auf dieses Gefühl hören. Diese Wahrnehmung müsse man grundsätzlich stärken – das gilt insbesondere auch für den Fall, dass es bereits zu einem Übergriff gekommen ist:
Dies ist keine Selbstverständlichkeit. Indem den Frauen immer wieder Mitschuld gegeben werde – sei es durch ihre Bekleidung, durch Alkoholkonsum oder durch alleiniges Unterwegssein – trauten sich diese nach einem Übergriff nicht mehr Unterstützung zu holen.
Aber die Verhaltensanweisungen zu kritisieren ist zu kurz gedacht.
Solange diese Probleme nicht grundlegend geändert sind, ist es aus Selbstschutz leider gesünder, auf solche Tipps zu hören.
Sie schicken ihr Kind in einem Kriegsebiet auch nicht auf den verminten Spielplatz zum spielen. Obwohl das arme Kind eigentlich genau sich dort entfalten sollte und das Recht hätte. Solange die Umstände aber nicht verändert sind, ist das suboptimal.