«Falls ihr zur Sensibilisierung derjenigen, die sich Sexismus im Alltag nicht vorstellen können/wollen, eine Erfahrung teilen wollt, schreibt mir eine DM.» Mit diesem Aufruf auf Instagram löste Flavien Gousset am Wochenende ein ungeahnter Schwarm an Nachrichten aus. Gut 100 fremde Menschen erzählten ihm Geschichten über Scham, Erniedrigung und Schmerz – kurz, über ihre Erlebnisse mit sexueller Gewalt.
Die Story beginnt etwas vorher, mit einem Catcall-Missverständnis in der Zürcher Innenstadt: Gousset war am Donnerstagabend mit dem Fahrrad auf dem Nachhauseweg, als aus einem vorbeifahrenden Auto eine männliche Stimme ruft: «Hey, Baby!» «Der Typ hielt mich offensichtlich für eine Frau», erzählt Gousset.
Am Lichtsignal holte er den weissen Smart ein und als der Mann Gousset sah, habe er lautstark festgestellt: «Oh, du bist ja ein Dude!» Darauf Gousset – im Nachhinein überrascht ab seiner Schlagfertigkeit: «Mag sein aber ich kenne keine einzige Frau in meinem Umfeld, die Freude an deinem Gebrüll gehabt hätte.»
Nach dem Erlebnis startete Gousset einen Aufruf auf Instagram: Er wollte Sexismus im Alltag thematisieren. Sein Profil ist öffentlich, ihm folgen rund 4300 Personen.
Was er damit auslösen würde, hätte er jedoch nicht gedacht. Mehr als hundert Frauen schrieben ihm, erzählten zum Teil eine, manchmal auch zwei oder drei Geschichten.
Er schätzt die Anzahl inzwischen auf über 150 Erzählungen. Sie reichen von einer Begegnung mit dem Elektriker, der nur mit dem Mann sprach, obwohl die Frau Fragen stellte, bis zur Bekanntschaft im Club, die mit einer Vergewaltigung endete.
Goussets Aufruf wurde zum Selbstläufer: Je mehr Geschichten zur Instagram-Story hinzukamen, desto mehr Leute schienen sich zu melden. Die Erzählungen über sexualisierte Gewalt hätten dabei eindeutig überwogen. «Mich hat schockiert, wie häufig die Geschichten von älteren Männern handelten, die sich direkt vor den Frauen einen runterholten. Viele waren damals noch minderjährig», so Gousset.
Das Erlebte auszuformulieren und zu lesen, dass es anderen gleich oder ähnlich ergangen ist, hätte wohl vielen gut getan, erzählt der 23-Jährige. «Einige haben mir geschrieben, es sei für sie das erste Mal, dass sie überhaupt jemandem von ihrem Erlebnis erzählten.»
Dass Betroffene von sexualisierter Gewalt ihre Geschichten geheim halten würden, sei oft der Fall, sagt Sandra Müller Gmünder. Sie ist Leiterin der Zürcher Opferhilfestelle. «Opfer von Sexualdelikten fällt es häufig schwer, sich jemanden anzuvertrauen – selbst dem Partner oder der besten Freundin.»
Das Bedürfnis, erzählen zu können, scheint dennoch vorhanden zu sein. Das zeigt der Aufruf von Flavien Gousset. Dazu sagt Müller: «Hier scheint die Hemmschwelle angenehm tief gewesen zu sein. Man kann die Geschichte anonymisiert einer fremden Person erzählen.»
Insbesondere junge Menschen zwischen 16 und 30 würden diese Art von Kommunikationskanälen suchen. «Sie wollen fragen können und rasch eine Reaktion erhalten», so Müller. Ausserdem brauche es weniger Überwindung als wenn man anrufen oder irgendwo vorbeigehen müsse.
Das habe die Zürcher Opferhilfe erkannt, worauf sie über die Bücher ging. Neben den asynchronen Plattformen und der persönlichen Beratung bietet die Opferberatung Zürich seit Juli 2020 eine Chat-Beratung an, die von 12 bis 18 Uhr bedient ist.
Der Erfolg sei allerdings bedingt. «Leider wird der Chat noch wenig genutzt», sagt Müller. Sie vermutet, dass das vorallem mit der Bekanntheit des Programms zu tun habe.
Wie gut Betroffene über Beratungsmöglichkeiten informiert sind, zeigt eine Untersuchung der «GFS Bern». Die Befragung von 4’495 Frauen hat gezeigt, dass gerade Mal 45 Prozent eine Anlaufstelle für Opfer von sexueller Gewalt in ihrer Region kennen.
Ausserdem spricht die Hälfte der Betroffenen mit niemandem über das Erlebte. Zur Anzeige gebracht werden nur acht Prozent aller sexuellen Übergriffe.
Die Dunkelziffer der Betroffenen ist gross. Und die Gründe für ihre Zurückhaltung unterschiedlich. So häufen sich die öffentlichen Berichte über unprofessionelle und demütigende Erlebnisse bei der Polizei oder in der Notfallaufnahme. Das zeigt etwa der aktuelle Bericht des Onlinemagazins «bajour». Opfer von sexueller Gewalt müssten häufig mit Vorurteilen kämpfen und werden nicht ernst genommen, wenn sie sich nach einem Übergriff Hilfe holen.
«Dieses Problem ist uns bekannt», sagt Sandra Müller von der Zürcher Opferhilfe. Jedoch gäbe es Bestrebungen, das zu ändern: «Gemeinsam mit der Polizei und dem Gesundheitswesen möchten wir die Personen an der Front durch Weiterbildungen im Umgang mit Opfern besser schulen», so Müller. Ausserdem hätten die Polizeistationen zunehmend Spezialabteilungen, die auf die Befragung von Opfern sexueller Delikte spezialisiert seien.
Den Schritt zur offiziellen Stelle gehen einige allerdings aus einem ganz anderen Grund nicht: «Viele nehmen sich selber nicht als Opfer von sexueller Gewalt wahr», sagt Müller. Die Überlegung, dass das persönlich Erlebte nicht schlimm genug wäre, hindere manche daran, Fachpersonen aufzusuchen.
Müller möchte auch hier ein Bewusstsein schaffen: «Genau dafür ist unsere Beratung da: Man erhält gratis Hilfe von Fachpersonen, kann anonym bleiben und es wird nichts zur Anzeige gebracht ohne das Einverständnis der Betroffenen.»
«Leider wird der Chat noch wenig genutzt», sagt Müller. Sie vermutet, dass das vorallem mit der Bekanntheit des Programms zu tun habe."
Liegt vielleicht auch daran, dass an Arbeitstagen von 12-18 nicht alle Betroffenen die Zeit oder den Ort finden, um sich in Ruhe hinzusetzen und ein so einschneidendes Erlebnis aufzuarbeiten.
Während der Mittagspause in der Kantine? Im Feierabendstress (Einkauf, Kind abholen, ...)?
Verlängerung bis 20 oder 22 Uhr würde sicher grossen Anklang finden.