Im Aargau sind rund 50 Prozent der Gemeinderätinnen und Gemeinderäte parteilos. Es ist nicht besonders ungewöhnlich, dass sich Interessengruppen ausserhalb der traditionellen Parteien organisieren und in der Lokalpolitik als IG sowieso oder xy-Verein engagieren. Das schmälert vielleicht Bedeutung und Einfluss der angestammten Parteien, für den Fortbestand des Milizsystems und der gelebten Demokratie auf Gemeindeebene ist es jedoch gut.
In der Regel. Wenn im kommenden Herbst im selbst ernannten «Juwel am Mutschellen» der neu gegründete Verein «Lebenswertes Oberwil-Lieli» mit zwei Kandidaten zu den Gemeinderatswahlen antreten wird, ist das ein Alarmsignal. Man könnte auch von einem Hilferuf sprechen. «Ich wünsche mir, dass sich bei uns im Dorf nicht nur die ‹guten Steuerzahler› willkommen fühlen und mit Respekt behandelt werden», schreibt eine Einwohnerin auf der seit letzter Woche aufgeschalteten Homepage von «Lebenswertes Oberwil-Lieli».
Durch die reichste Gemeinde im Aargau zieht sich ein Riss, der immer tiefer wird. Auf der einen Seite die Anhänger der Dorfregierung, die mit ihrer Politik die Interessen der nicht wenigen zugezogenen Superreichen bedient und überzeugt ist, damit (tiefster Steuersatz im ganzen Kanton) auch zum Wohl aller anderen Bürger zu handeln. Auf der anderen Seite der Teil der Dorfbevölkerung, der es leid ist, dass seine Gemeinde regelmässig für wenig schmeichelhafte Schlagzeilen gut ist. Die Einführung der verursachergerechten Sackgebühr zu verweigern, bis der Kanton mit Zwangsvollstreckung droht: Das mag ja noch als bloss etwas skurril und irgendwie gar nicht so unsympathisches Aufbegehren nach Manier des sprichwörtlichen gallischen Dorfs durchgehen.
Aber locker 300'000 Franken Strafgebühr budgetieren statt die gesetzliche Aufnahmepflicht zu erfüllen und den umworbenen Millionären im Dorf den Anblick von ein paar Asylbewerbern zuzumuten: Das machte Oberwil-Lieli international zum Synonym für eine unsolidarische, fremdenfeindliche Schweiz. Einer (allerdings knappen) Mehrheit im Dorf scheint das egal oder zumindest den Preis für den Protest gegen eine verfehlte Asylpolitik von Bund und Kanton wert zu sein. Es gibt mittlerweile aber auch viele Oberwil-Lieler, die sich für ihren Wohnort regelrecht schämen, und die es wenn immer möglich vermeiden, ihre Herkunft zu erwähnen. «Wir sind wahrscheinlich das Dorf mit dem schlechtesten Ruf in der ganzen Schweiz», sagt Thomas Gull, Vizepräsident von «Lebenswertes Oberwil-Lieli».
Es ist nicht wegzudiskutieren, dass die Entwicklung im Dorf, gegen die «Lebenswertes Oberwil-Lieli» ankämpfen will, untrennbar mit einem Namen verbunden ist: mit dem von Gemeindeammann Andreas Glarner. Das stürzt die Initianten des Vereins in ein Dilemma. Sie suchen nicht die Konfrontation, sondern wollen integrierend wirken, das betonen Präsident Siegfried Renggli und Vize Thomas Gull beim Treffen mit der «Schweiz am Sonntag» immer wieder.
Die neue Gruppierung will dazu beitragen, dass das Dorf «nach demokratischen Prinzipien regiert» wird. Sie will für alle offen stehen, die sich für eine «zukunftsorientierte, konstruktive und offene Politik» einsetzen. Aber ob man es nun ausspricht oder nicht: Das heisst für jene, die den Aufstand gegen Glarner wagen wollen.
Formell bestimmt er die Gemeindepolitik selbstverständlich nicht allein, sondern hat immer den Gesamtgemeinderat hinter sich. Aber kaum jemand im Dorf dürfte daran zweifeln, dass der SVP-Hardliner das fünfköpfige Gremium nach Belieben dominiert. Und seit dem Aufstieg zum Nationalrat polarisiert er mehr denn je. Glarner hat eine grosse Fangemeinde, die ihn schon fast wie einen Messias feiert. Gleichzeitig hat er es aber in Kürze auch zum «national meistgehassten Politiker» (Zitat «Weltwoche») geschafft. Seiner politischen Karriere in Bern hat das nicht geschadet, im Gegenteil. Für die Gemeinschaft im Dorf, wo die Politik die Interessen aller unter einen Hut bringen sollte, ist es Gift. Davon sind jedenfalls die Initianten von «Lebenswertes Oberwil-Lieli» überzeugt, deshalb haben sie den Verein ins Leben gerufen.
Man wirft dem Gemeinderat unter der Führung von Andreas Glarner vor, eine Politik der Ausgrenzung zu betreiben, die Konflikte befeuert, statt sie zu lösen. Die Sache mit den Asylbewerbern ist ein exemplarisches Beispiel. Es wäre für Oberwil-Lieli nicht wirklich ein Problem, ein paar Flüchtlinge zu beherbergen. Tut es inzwischen ja auch, aber zuerst liess man ein deutsches Fernsehmagazin bilanzieren, dass man sich hier an «einem eher dunklen Fleck der Schweiz» befinde, wo «Ansichten salonfähig sind, die anderswo als rechtsradikal gelten».«Das Bewirtschaften von Problemen hindert uns, sie zu lösen, das hat sich in den letzten Jahren zugespitzt», sagt Siegfried Renggli, der «Lebenswertes Oberwil-Lieli»-Präsident.
Die Aussage ist nicht spezifisch auf die Asylpolitik gemünzt. Wohl hatten einige der Gründer des Vereins auch in der «IG für ein solidarisches Oberwil-Lieli» mitgewirkt, aber man will ein breiteres Publikum ansprechen. «Das Asylthema war nie ein Traktandum in unseren bisherigen Sitzungen», so Renggli. Es gehe ihnen auch nicht um linke oder rechte Positionen, sondern um die politische Kultur an sich, sagt Thomas Gull. Heute kämen in Oberwil-Lieli viele schon gar nicht mehr an eine Gemeindeversammlung, weil man dort öffentlich fertiggemacht werde, wenn man eine andere Meinung als der Gemeinderat vertritt. «Davon haben wir genug, wir wollen eine andere Politik im Dorf.»
Bis jetzt ist die Kerngruppe des Vereins erst rund ein Dutzend Personen stark. Ein erster Gradmesser, ob die Initianten damit tatsächlich einen grösseren Teil der Dorfbevölkerung ansprechen kann, wird der kommende Freitag sein: Dann lädt «Lebenswertes Oberwil-Lieli» zu einem Informationsabend in der Aula im Schulhaus Falter ein.