Neue Studie über Schweizer Armut: «Familiendynastien in der Sozialhilfe gibt es nicht»
Tantalos frevelte gegen die Götter. Die Figur der griechischen Mythologie wurde dafür hart bestraft – man spricht von den Tantalos-Qualen. Die Götter verfluchten auch seine Sippe, die Tantaliden: Jeder Nachfahre tötete ein Familienmitglied. Eine Spirale von Gewalt wurde damit ausgelöst.
In der Sozialforschung bezeichnet der Tantalus-Fluch das Phänomen, dass Nachkommen aus Haushalten, die dauerhaft von der Sozialhilfe abhängig sind, nicht aus dieser Situation herausfinden. Auch sie bleiben später auf staatliche Zuwendungen angewiesen.
Das Institut für Schweizer Wirtschaftspolitik an der Universität Luzern hat nun untersucht, wie es sich damit in der Schweiz verhält. Einmal Sozialhilfe, immer Sozialhilfe – gilt das für Familien in diesem Land?
Bei Cousins verhält es sich anders als bei Geschwistern
Die Ökonomin Melanie Häner-Müller hat gemeinsam mit Tamara Erhardt und Christoph Schaltegger die Gruppe der 20- bis 33-Jährigen analysiert. Die jungen Menschen stehen in der Startphase ins Erwerbsleben. Die Autoren verglichen einerseits Geschwister, anderseits Cousins.
Warum Cousins? Sie haben gemeinsame Grosseltern, aber nicht die gleichen Eltern. Es gibt also eine familiäre Prägung, aber sie ist weniger stark als unter Geschwistern.
Vier Prozent der 20- bis 33-Jährigen in der Schweiz erhalten Geld von der Sozialhilfe. Dieser Wert liegt leicht über dem Durchschnitt aller Altersgruppen. Die Untersuchung des Instituts ergibt ausserdem: Wer Eltern oder Geschwister hat, die Sozialhilfe beziehen, weist eine um rund 22 Prozentpunkte höhere Wahrscheinlichkeit auf, selber Unterstützung zu benötigen.
Innerhalb der Kernfamilie verharren also viele Mitglieder längerfristig in der Sozialhilfe. Anders sieht es aus, wenn Personen mit ihren Cousins verglichen werden: Wer eine Cousine oder einen Cousin hat, welche die Unterstützung des Staates brauchen, hat nur eine um vier Prozentpunkte erhöhte Wahrscheinlichkeit, die Sozialhilfe zu beanspruchen.
Zu diesem Befund passt: Die Fortführung des Sozialhilfebezugs zwischen Grosseltern und Enkeln liegt lediglich bei 20 Prozent im Vergleich zur Übertragung zwischen Eltern und Kindern.
«Familiendynastien in der Sozialhilfe gibt es in der Schweiz nicht», sagt Melanie Häner-Müller. Man sei nicht gefangen in der Sozialhilfe. Der familiäre Einfluss darauf, ob jemand staatliche Unterstützung in Anspruch nimmt, setzt sich nicht von Generation zu Generation fort, sondern bildet sich schnell zurück.
Einen wesentlichen Beitrag dazu leistet die Durchlässigkeit des Schweizer Bildungssystems. Es ist möglich, zunächst eine Lehre zu absolvieren und anschliessend weiterführende Bildungsgänge an Fachhochschulen oder Universitäten zu besuchen. Den Bewohnerinnen und Bewohnern des Landes stehen jederzeit Wege offen, höhere berufliche Qualifikationen zu erwerben.
Hohes Einkommen unabhängig vom Elternhaus möglich
Autorin Häner-Müller verweist auf zwei weitere Kategorien, die neben dem Sozialhilfebezug über Generationen hinweg verglichen werden: der Bildungsgrad und die Höhe des Einkommens. In ihrer Untersuchung zeigt sie, dass der Einfluss der Eltern auf die Abhängigkeit von der Sozialhilfe am grössten ist, gefolgt vom Einfluss der Eltern auf das Bildungsniveau. Bei der Einkommensklasse zeigen sich hingegen die grössten Unterschiede zwischen Eltern und Kindern. Es ist in der Schweiz gut möglich, unabhängig vom Elternhaus ein hohes Einkommen zu erzielen.
Das deutet auf eine hohe soziale Durchlässigkeit: Man kann in der Gesellschaft aufsteigen, aber auch zurückfallen. Leistung und Engagement haben dabei meistens ein grösseres Gewicht als familiäre Bindungen.
Bei der Sozialhilfe hat die Familie mehr Einfluss als beim Einkommen – aber nur kurzfristig, also zwischen Eltern und Kindern. Schaut man eine Generation weiter, wird der Einfluss genauso schnell kleiner wie beim Einkommen. Ein Tantalus-Fluch lässt sich nicht feststellen.
Wie schneidet die Schweiz im internationalen Vergleich ab? Häner-Müller betont, dass es kaum Studien über mehr als zwei Generationen gebe, sodass belastbare Aussagen schwierig seien. Daten aus den USA zeigen: Innerhalb der Kernfamilie setzt sich der Sozialhilfebezug oft fort. Das ist in der Schweiz auch so. Schon in der nächsten Generation sinkt hierzulande der Bezug staatlicher Unterstützung aber deutlich. (bzbasel.ch)
