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Antibiotika wirken immer weniger: Was die Tierhaltung damit zu tun hat

Kälber in einem Stall
Mit einer Freilufthaltung könnte der Antibiotikaeinsatz bei Kälbern optimiert und reduziert werden.Bild: Shutterstock
Science-News

Antibiotika wirken immer weniger: Was die Tierhaltung damit zu tun hat

Immer mehr Erreger werden gegen heute bekannte Antibiotika resistent. Weil Antibiotika ihre Wirksamkeit verlieren, werden leicht behandelbare Infektionen zu tödlichen Krankheiten. Das betrifft die Human- wie auch die Tiermedizin, bei der durch andere Tierhaltung eine Verbesserung möglich wäre.
24.11.2022, 08:49
Bruno Knellwolf / ch media
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Sie wird die «stille Pandemie» genannt. Schleichend weitet sich weltweit die Antibiotikaresistenz aus. Immer mehr Medikamente wirken nicht mehr gegen schwere Krankheiten, weil zu viele resistente Keime Tiere und Menschen krank machen. Zwar wird laufend an neuen Antibiotika geforscht. Neue Antibiotika sind aber für die Pharmaindustrie kein lohnendes Geschäft. Somit müssen neue Wege gefunden werden. In der Veterinärmedizin ist die Kälbermast ein Haupttreiber der Antibiotikaresistenzen. Dagegen gäbe es eine Methode, das Freiluftkalb, sagt Hanspeter Naegeli, Professor an der Vetsuisse-Fakultät der Universität Zürich.

Inwieweit spielt der hohe Antibiotikaverbrauch in der Tiermedizin eine Rolle bei den Resistenzen in der Humanmedizin?

Hanspeter Naegeli: Die Antibiotikaresistenz bei Tieren ist durchaus auch ein Problem der Humanmedizin. Aber die Tiermedizin ist nicht der grösste Verursacher von Resistenzen. Der Hauptteil der menschlichen Antibiotikaresistenzen bei der Humanmedizin ist selbst verschuldet. Durch den hohen und oft auch problematischen Einsatz der Antibiotika bei Menschen. Es kann aber Übertragungen resistenter Keime von Tieren auf Menschen und umgekehrt geben.

Beinahe jedes Kalb wird mit Antibiotika behandelt. Warum?

Das hat mit der traditionellen Kälberhaltung zu tun. Um eine Milchproduktion zu haben, müssen Kühe Kälber gebären. Aber die Milchproduzenten haben kein Interesse daran, die Kälber ihrer Kühe auch zu mästen. Deshalb gibt es spezialisierte Kälbermast-Betriebe, welche die jungen Tiere kaufen, einsammeln und mästen. In einem Maststall geht es dann zu und her wie in einer Kinderkrippe. Die Tiere sind extrem jung, ihre Atemwege sind noch nicht fertig ausgebildet, das Immunsystem noch schwach. Dazu kommt der Transportstress, der sie auch schwächt. Im Stall sind die Tiere nahe zusammen, die Luft ist mit Staub und Ammoniak gefüllt, die Luftqualität schlecht. So gehen die Viren und Bakterien schnell von Tier zu Tier, sie werden krank, oft gibt es Lungenentzündungen.

Dann bleibt nur die Abgabe von Antibiotika?

Ja, sonst sterben die Kälber. Wird in der Gruppe eine Lungenentzündung festgestellt, müssen alle Tiere Antibiotika erhalten. Und zwar sofort, sonst ist die ganze Gruppe verloren. Meist sind die Kälber von Viren befallen worden, die das Immunsystem schwächen und damit den Weg für die Bakterien öffnen, die durch Antibiotika bekämpft werden müssen. In einem Mutterbetrieb wird das idealerweise verhindert, weil die Kälber dort die Muttermilch saugen, die Antikörper enthält. Das Kalb ist dann gegen Keime und Erreger geschützt. Das geht nicht in einem Mastbetrieb mit Kälbern unterschiedlicher Herkunft.

Ist die Kälbermast somit ein Haupttreiber der Antibiotikaresistenz?

In der Tiermedizin schon. In der Schweine- und Geflügelmast müssen weniger Antibiotika eingesetzt werden, weil das geschlossene und besser kontrollierbare Systeme sind.

Was bedeuten die Antibiotikaresistenzen für die Veterinärmediziner?

Wenn Tierärzte Antibiotika missbrauchen, werden ihnen irgendwann die Medikamente ausgehen. Es wird vermutlich keine neuen Wirkstoffe in der Veterinärmedizin geben in den nächsten Jahrzehnten. Man muss mit dem auskommen, was man heute hat. Das heisst, man muss sehr zurückhaltend umgehen mit Antibiotika in der Veterinärmedizin.

Mit dem Forschungsprojekt Freiluftkalb wurde von Professorin Mireille Meylan an der Vetsuisse Bern gezeigt, dass der Antibiotikaverbrauch damit massiv reduziert werden könnte. Wie funktioniert das?

In diesem Projekt wurden alle Risikofaktoren vermindert. Angefangen mit Freiluft, die Kälber sind draussen auf dickem Stroh unter einem Dach. Also keine Stallluft mit zu viel Ammoniak und Staub. Zum zweiten werden die Kälber zum richtigen Zeitpunkt geimpft. Drittens hält man die Transportwege der Kälber so kurz wie möglich, um den Stress zu reduzieren. Nach Ankunft in der Kälbermast kommen die «Freiluftkälber» zuerst in Quarantäne in Einzelbox, damit diese isoliert wären, sollten sie nach dem Transport eine Infektion haben. Erst danach kommen die Kälber in die Gruppe. Der Antibiotikaverbrauch konnte bei den Freiluftkälbern auf einen Fünftel gesenkt werden und die Kälbersterblichkeit um die Hälfte.

Das bedeutet mehr Tierwohl, tönt aber nach Mehrkosten und grösserem Platzverbrauch?

Mehr Platz braucht das Freiluftkalb nicht. Aber natürlich muss man die Anlage zuerst bauen, dazu braucht es aber nur ein zusätzliches Dach. Und es gibt dann noch Probleme zu lösen wie den Gewässerschutz oder die Sicherstellung der Subventionen, weil ich gehört habe, dass diese Tierhaltung bis jetzt nicht subventioniert wird.

Wird das durch den stark reduzierten Antibiotikaverbrauch ausgeglichen?

Antibiotika sind extrem billig, das spielt also keine Rolle. Aber die Tiere sind weniger krank, somit muss der Tierarzt weniger oft gerufen werden. Berechnungen zeigen, dass diese Haltung keinen Einfluss auf die Rentabilität der Kälbermast hat.

Würden die Bauern beim Freiluftkalb mitziehen?

Ich hatte Gelegenheit mich mit Vertretern des Bauernverbandes zu unterhalten. Da zeigte sich ein gewisses Verständnis. Kalbfleisch ist ein Hochpreisprodukt, das man sich nicht jeden Tag leistet. Wenn sich wegen der Antibiotika und der Tierhaltung eine Abneigung gegen dieses Fleisch entwickelt, ergeben sich daraus Probleme für die Bauern, wenn der Absatz leiden sollte. Dazu kommt: Können die Kälber nicht mehr verkauft werden, müssen sie direkt nach der Geburt getötet werden. Fleischanbieter müssen sich also Gedanken machen. Aber die Bauern und auch die Konsumenten müssen auch überzeugt werden, dass sich antibiotika-schonendes Kalbfleisch lohnt.

Was geschieht, wenn der Antibiotikaverbrauch nicht eingedämmt wird?

Resistenzen nehmen zu, so oder so. Für die Humanmedizin besteht die Hoffnung, dass man mit der Zeit neue Wirkstoffe auf dem Markt hat, welche die alten ersetzen können. Bei der Veterinärmedizin werden vermutlich keine neuen Medikamente dazu kommen, weil neue Wirkstoffe für die Humanmedizin reserviert wären. Also müssen Veterinärmediziner und alle Interessenverbände aufzeigen, welche Lösungen für die Reduktion des Antibiotikaverbrauchs möglich sind oder der Gesetzgeber muss eingreifen. Ansonsten sehe ich aus tiermedizinischer Sicht das Problem, dass das Produkt Kalbfleisch verloren geht. Das muss auch Vegetarier interessieren. Denn ohne Kalb gibt es keine Milch. (cpf)

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17 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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kobL
24.11.2022 10:13registriert Januar 2014
Einer der Gründe warum ich so gut wie keine Tierprodukte mehr konsumiere. Allzulange wird es nicht mehr gehen und wir sterben wieder in den guten alten Zeiten an den einfachsten bakteriellen Infekten. Und warum? Weil wir den Hals nicht voll genug bekommen mit günstigem Eier, Fleisch und Milchprodukten.
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Solo_Sole
24.11.2022 14:45registriert Januar 2022
Soviel zum Tierschutz in der Schweiz. Das Bild und die eiskalte Beschreibung , wie mit den Kälbern umgegangen wird, zeigt die Einstellung zu Tieren und ist herzzerreissend.
Abgesehen davon, dass die Kühe jedes Mal unendlich leiden, wenn ihnen wieder und wieder die Babies weggenommen werden, wie traumatisiert sind dann erst die Kälbchen?
Das sind doch keine Maschinen, sondern fühlende Lebewesen, wie wir! 💔💔
Unbegreiflich, dass dieses Tierelend millionenfach in Kauf genommen wird, bloss um Milchprodukte - und natürlich Fleisch - zu konsumieren Go vegan 🌱
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Grobianismus
24.11.2022 09:04registriert Februar 2022
Schön, dass ein Artikel zu diesem Thema gekommen ist. Ich habe vor Ewigkeiten aufgehört, Hühner zu essen, aus genau diesem Grund. Leider sind auch die Biohühner vollgepumpt von Antibiotika.
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