In seinen Statuten hat sich unser Eishockeyverband politische und konfessionelle Neutralität und Unabhängigkeit verschrieben. Nun sind diese Neutralität und Unabhängigkeit zum ersten Mal in der Geschichte (seit 1908) aufgegeben worden. Das ist auch mit einem Blick zurück bemerkenswert.
Zuerst ist Zug aufgefordert worden, nicht mehr mit dem Logo des russischen Sponsors «Nord Stream» auf dem Jersey aufzutreten. In einem nächsten Schritt hat unser Verband noch vor Finnland, Schweden, Tschechien, den USA und Kanada schriftlich beim Internationalen Verband (IIHF) schärfste, ja radikale und teilweise unrealistische Sanktionen gegen Russland und Weissrussland gefordert: neben der Verbannung der beiden Länder von der WM sogar der Ausschluss aus dem internationalen Verband.
Darüber hinaus auch noch die Suspendierung aller demokratisch gewählten IIHF-Funktionäre mit russischer und belarussischer Staatsbürgerschaft und das Ende der Zusammenarbeit mit der KHL, der zweitwichtigsten Liga der Welt. Die Forderungen sind im Detail auf der SIHF-Webseite nachzulesen.
Das Council hat an seiner Krisensitzung nicht alle Forderungen erfüllt und beschränkt sich vorerst auf Sanktionen für das Jahr 2022: Russland und Belarus sind von allen WM-Turnieren – auch bei den Juniorinnen und Junioren – ausgeschlossen worden.
Die Radikalität der Sanktionsforderungen unseres Eishockey-Verbandes überrascht im Wissen um unsere Hockey-Historie. In der Vergangenheit ist – mit Ausnahme der Absenz Deutschlands in den ersten Jahren nach dem 2. Weltkrieg vom internationalen Sport – noch nie eine Hockeynation aus politischen Gründen aus der WM ausgeschlossen worden. Auch nicht nach der Niederschlagung des Aufstandes in Ungarn (1956) und des Prager Frühlings (1968) durch sowjetische Panzer.
Sowohl die damalige Tschechoslowakei als auch Ungarn waren formell unabhängige Staaten wie heute die Ukraine. 1957 boykottierten wegen des Einmarsches in Ungarn westliche Länder (unter anderem Kanada und die USA) die WM in Moskau, die ersten Titelkämpfe auf russischem Boden. 1962 verweigerten die US-Behörden (also nicht sportliche Autoritäten) den Spielern der DDR die Einreise für die WM in Colorado Springs und Denver. Aus Solidarität mit ihrem sozialistischen Bruderland verzichteten die Sowjets und die Tschechoslowaken auf diese WM.
Und nun sind mit dem WM-Ausschluss von Russland und Weissrussland die härtesten Sanktionen der Geschichte (seit 1908) beschlossen worden. Mit der Schweiz als eine der treibenden Kräfte. Eine 68-jährige Freundschaft ist damit zerbrochen.
Die Schweiz hatte mit dem russischen Hockey eine besondere Freundschaft gepflegt. 1954 ist die Schweiz noch vor der ersten WM-Teilnahme der Sowjetunion als erste wichtige westlichen Hockey-Nation zu Länderspielen nach Moskau eingeladen worden. Am 16. Februar 1954 verlieren die Schweizer im Dynamo-Fussballstadion vor über 30'000 Zuschauerinnen und Zuschauern bei minus 26 Grad 1:13. Bis heute die grösste Länderspielkulisse bei einem Spiel der Schweiz.
Zwei Tage später ist es noch kälter. Die Spielzeit wird deshalb pro Drittel auf 15 Minuten verkürzt. Nur noch etwas mehr als 10'000 Fans kommen und die Schweizer verlieren nur noch 1:3. Damals gehört die Schweiz – 1950 noch Europameister – zu den grossen Hockeynationen. Die Sowjets holen nur wenig später bei ihrer ersten WM-Teilnahme in Stockholm (26. Februar bis 7. März 1954) gleich ihren ersten WM-Titel.
Gerade die Neutralität der Schweiz ermöglichte dauerhaft gute Beziehungen zum sowjetischen Eishockey bis in die Neuzeit. So ist es auch kein Zufall, dass zwei der besten Spieler der sowjetischen Hockeygeschichte noch vor der Auflösung der Sowjetunion die Bewilligung für einen Transfer in den Westen bekamen: Slawa Bykow und Andrej Chomutow haben mit Fribourg-Gottéron ein Hockeymärchen geschrieben. Beide besitzen inzwischen auch die Schweizerische Staatsbürgerschaft. Und schliesslich haben die Russen die Wahl von René Fasel zum IIHF-Vorsitzenden 1994 mit grösstem Wohlwollen begleitet. Die Ära des Freiburgers (1994 bis 2021) gilt als die erfolgreichste in der IIHF-Geschichte.
Das forsche Vorgehen unseres eigentlich durch die eigenen Statuten zur Neutralität verpflichteten Verbandes hat die 68-jährige Freundschaft mit dem russischen Hockey beendet. Kritiker monieren: Hätte man mit etwas klügerem, diplomatischerem Vorgehen nicht ebenso viel erreichen können, ohne gleich die langjährigen Beziehungen zum russischen Hockey abzubrechen? Haben die Schweizer Hockey-Funktionäre eine schreckliche Tragödie zur persönlichen Profilierung ausgenützt? Diese Fragen dürfen Kritiker stellen.
Der Sport kann die Völker miteinander verbinden. Das war die Idee von Baron Pierre de Coubertin. Der Gründer der modernen Olympischen Spiele war ein Romantiker. Heute ist der Sport wegen seiner globalen Vernetzung und seiner Bedeutung als globales Milliardengeschäft zu einem Instrument der Politik geworden.
Zu einer Wegnahme der WM 2023 in St.Petersburg hat sich der Internationale Verband noch nicht durchringen können. Weil dieser Schritt seinen Preis hat: Die Vermarktungsagentur Infront überweist für die TV- und Werberechte an den WM-Turnieren dem Internationalen Verband gut und gerne 20 Millionen pro Jahr. Diese Summe wird mit dem Verkauf von Werbe- und TV-Rechten refinanziert.
Der grösste Kunde von Infront bei den Werberechten ist heute der russische Energiekonzern Gazprom. Infront ist in chinesischem Besitz. Ohne grünes Licht von Infront wird den Russen die WM 2023 nicht entzogen. Mit Bertolt Brecht können wir sagen: Die Werbeeinahmen kommen vor der Moral.
Ich denke dass es da einige Verbände gibt, die lieber aus dem IIHF austreten, als nach Russland zu gehen. Danach wären wir dann bei der Gründung eines neuen Dachverbandes.
Ist dieses Szenario so unwahrscheinlich?