Marco Müller war schon einmal in der Altjahrswoche in Davos. Als Zuschauer. «Ich war noch bei Berns Elitejunioren. Wir haben in der Kabine eine Liste für Interessenten eines Spengler-Cup-Besuches aufgelegt. Ich habe mich eingetragen und wir sind mit dem Bus für einen Tag nach Davos gefahren.» Seither hatte er einen Traum: Einmal beim Spengler Cup auf dem Eis stehen.
Nun ist Marco Müller wieder in Davos. Und erneut ist er mit dem Bus hinaufgefahren. Diesmal mit Ambris Mannschaftbus. Und er war beim Auftaktspiel nicht mehr bloss Zuschauer. Sondern Hauptdarsteller. Beim 4:1 gegen das russische Spitzenteam Ufa hatte er bei drei Treffern den Stock im Spiel. «Die Stimmung war so, wie ich es mir erträumt hatte», sagte er nach dem Match.
Müller hat ganz wesentlich zu einem Kuriosum beigetragen: Noch nie in der Geschichte (seit 1923) ist einer Mannschaft ein «Grand Slam» gelungen: Vier Tore und jedes auf unterschiedliche Art und Weise. Eines bei gleich vielen Feldspielern, eines in Überzahl, eines in Unterzahl und zum Schluss noch ein sogenannt technisches Tor zum 4:1. Der Puck war nie im Netz, aber wenn ein Team den Torhüter in den letzten zwei Minuten durch einen sechsten Feldspieler ersetzt hat, dann wird im Falle einer Strafe dem Gegner automatisch ein Tor zugesprochen. Marco Müller hat also ein richtiges Tor (zum 2:0) und ein «theoretisches» Tor (zum 4:1) erzielt – er war der letzte Ambri-Spieler gewesen, der den Puck berührt hatte.
Der Mittelstürmer hatte mit Dominik Zwerger die Partie dominiert. Letzte Saison gehörte noch Liga-Topskorer Dominik Kubalik zu dieser Angriffsreihe (er stürmt jetzt in der NHL) und die bange Frage war ja: Können Marco Müller und Dominik Zwerger auch ohne den tschechischen Weltklasse-Stürmer Tor und Assist. Die Antwort ist klar: Ja, sie können. Vielleicht sollte die Geschichte der letzten Saison ein wenig umgeschrieben werden. Im Sinne, dass der Anteil seiner Linienkameraden Müller und Zwerger am Skorertitel Kubaliks grösser war, als bisher angenommen.
Was Marco Müller noch fast mehr freute als seine beiden Tore: Auch seine Eltern und seine beiden Geschwister waren mit ihren Familien im Stadion. Sein Vater war zum ersten Mal überhaupt beim Spengler Cup. Und das will schon etwas heissen. Denn Victor Müller ist eine Oltner Hockeylegende.
Er gehörte zum letzten NLA-Team der Oltner, das 1994 in der heute noch unvergessenen Playoutserie gegen Biel in die NLB abgestiegen ist. Die Entscheidung fiel im Penaltyschiessen. Victor Müller scheiterte im allerletzten Penalty an Biels Legende Olivier Anken und beide beendeten ihre Karriere. Olten ist seither nicht mehr in die höchste Spielklasse zurückgekehrt.
Dieser Auftaktsieg mit Ambri beim Spengler Cup ist für seinen Sohn Marco ein Karriere-Höhepunkt. Dass er überhaupt in Ambri und nun beim Spengler Cup spielt ist bereits eine ganz besondere Geschichte.
Müller beginnt seine Karriere in Olten, wechselt 2007 noch im tiefen Juniorenalter nach Biel und kommt ein Jahr später, nach wie vor Junior, schliesslich in Bern an. Beim SCB kümmert man sich um den jungen Oltner und sorgt dafür, dass er eine KV-Lehrstelle findet. Er lernt in Bern in einer der besten Nachwuchsorganisationen des Landes das Hockey-Handwerk von Grund auf. Rückblickend sagt er: «Bern war eine gute Lebensschule für mich und davon kann ich jetzt noch profitieren.»
Bereits in seinem ersten Jahr als Elitejunior darf Müller unter Larry Huras mit der ersten Mannschaft trainieren und kommt während der Saison 2011/12 zum ersten NLA-Einsatz. Aber er kann sich in Bern nicht durchsetzen und kommt an den entscheidenden Punkt seiner Karriere: Sich «durchbeissen» beim SCB? Das Risiko wäre erheblich, zum «Hinterbänkler» zu werden und nie mehr aus dieser Rolle herauszukommen. Oder in einem «kleinen» Klub eine tragende Rolle übernehmen? In diesem Falle besteht das Risiko des Scheiterns.
Ambris damaliger Sportchef Ivano Zanatta meldet sich bei Marco Müllers Agenten Hnat Domenicelli (heute Sportchef in Lugano), bemüht sich um den jungen SCB-Stürmer und kann ihn überzeugen. Müller sucht ab 2017 die Herausforderung in Ambri. Es ist noch Zanatta, der den Transfer über die Bühne gebracht hat. Ein anderer Klub als Ambri war gar nie im Spiel. «Im Sommer 2017 habe ich nach Gesprächen mit Trainer Luca Cereda und dem neuen Sportchef Paolo Duca gespürt, dass mein Entscheid richtig war. Wir haben uns sofort sehr gut verstanden.»
Vom grössten Hockeyunternehmen der Schweiz zum letzten «Dorfklub» der höchsten Liga. Aus der Hauptstadt ins karge Bergtal der Leventina – ein grösserer Gegensatz ist kaum denkbar. «In Ambri geht es familiärer zu, man arbeitet sehr eng zusammen. Ich schätze es sehr, dass ich ein Teil dieser Mannschaft sein darf. Ich bekomme viel Eiszeit und Verantwortung und spüre das Vertrauen von Cereda und Duca. Ich bin sehr glücklich in Ambri und tue alles, um dieses Vertrauen zu rechtfertigen. Ich glaube nicht, dass ich bei einem anderen Klub bessere Voraussetzungen finden könnte.»
Marco Müller hat seine Chance in Ambri genutzt. Er ist der beste Schweizer Skorer und der beste Bully-Spezialist mit Schweizer Pass im Team und inzwischen auch Nationalspieler. Und vor allem: Nur mit Ambri konnte sein Traum Spengler Cup in Erfüllung gehen. Der SC Bern nimmt ja aus Prinzip nicht am Turnier in Davos teil.
Und sowas wird im Eishockey "Grand Slam" genannt? Man lernt nie aus :)