Die Szene ist verbürgt. Sie spielt in der malerischen Altstadt von Bratislava. Während der Eishockey-WM 2019.
Marc Lüthi trifft in der Terrassenbeiz einen langjährigen SCB-Dauerkartenbesitzer. Man kann dem charismatischen SCB-Manager und -Mitbesitzer viel vorwerfen. Aber nicht Arroganz gegenüber seinen Kunden. Er weiss, woher sein sauer verdientes Geld kommt. Also kommen die beiden ins Gespräch. Das grösste Anliegen des SCB-Anhängers: Nur ja nicht am Spengler Cup teilnehmen. Der SCB dürfe nicht auch noch beim Äufnen der HCD-Transferkriegskasse helfen.
Marc Lüthi gibt Entwarnung. So lange er etwas zu sagen habe, werde der SCB nie beim Spengler Cup auftreten. Und er liefert eine Begründung, die viel für sich hat: Es sei ihm gerade recht, wenn die Konkurrenz über die Festtage in Davos oben Energie verbrauche, während man im Flachland ein paar Tage Pause machen könne.
Wo er recht hat, da hat er recht. Ein paar Tage die Köpfe durchlüften, nicht an Hockey denken, den Trainer nicht sehen, daheim bei seinen Liebsten sein – das ist in einem Championat mit einem so dichten Spieldatenkalender von unschätzbarem Wert. Es hat schon seinen Grund, warum der SCB in den letzten vier Jahren dreimal die Meisterschaft gewonnen hat. Wir können es pathetisch so sagen: Mit dem wohl durchdachten Spengler Cup-Boykott entscheidet Marc Lüthi den Kampf um die Playoffplätze und mithin die Meisterschaft.
Im vergangenen Mai, während der Hockey-WM, hat Marc Lüthi im Zusammenhang mit der festtäglichen Verschnaufpause natürlich an den Titelkampf gedacht. Schliesslich ist der SCB Titelverteidiger.
Nun ist die Situation unerwarteterweise viel dramatischer. Der Spengler Cup beeinflusst direkt das seit Menschengedenken spannendste Ringen um die letzten Playoffplätze. Und der SCB ist darin verwickelt.
Ambri und der SCB belegen punktgleich die Plätze 8 und 9. Und soeben hat Ambri dem SCB eine schmähliche Heimniederlage (2:3 n.P.) zugefügt. Ja, Ambri schreibt diese Saison ein Hockey-Märchen. Und nun rockt Ambri auch noch beim Spengler Cup und der grosse, mächtige SCB ruht.
Aber da ist noch etwas: Drei Punkte vor dem SCB ist Langnau klassiert. Nun fegen Harri Pesonen (für Davos) sowie Chris DiDomenico und Ben Maxwell (für das Team Canada) beim Spengler Cup übers Eis. Die drei schultern am meisten Einsatzzeit pro Partie.
Beim Kampf um die letzten Playoffplätze zählt jede Energie-Kalorie. Nach dem Spengler Cup geht es gleich zur Sache. Langnau muss am 2. Januar zum ZSC ins Hallenstadion, spielt am 3. Januar gegen Davos und am 5. Januar in Fribourg. Ambri muss am 2. Januar nach Lausanne reisen, fordert am 4. Januar die Lions und tritt an 5. Januar in Genf an.
Wahrlich, es wäre gut, wenn Harri Pesonen und Chris DiDomenico, Langnaus wichtigste Feldspieler, über die Festtage ein wenig ruhen könnten und Ambri die Kräfte schonen.
Noch ist nicht vergessen, dass Chris DiDomenico vor einem Jahr nach dem Spengler Cup müde war, sieben Spiele hintereinander ohne Torerfolg blieb und erst gegen die Lakers wieder traf. Zudem wurde der Leitwolf durch dumme Gerüchte verärgert, er habe angeblich eine ganze Nacht während des Spengler Cups nicht geschlafen, weil er jemanden mit dem Auto am Flughafen Kloten abgeholt habe.
Das war letztlich nicht so tragisch. Die SCL Tigers hatten zum Jahresende auf Rang 5 sieben Punkte Reserve auf den Strich. Jetzt sind es nur drei. Ja und erst Ambri! Punktgleich mit dem SCB!
Die Berner aber, ausgeschlafen, ausgeruht, hoch motiviert, hungrig auf neue Ernstkämpfe, frisch an Leib und Seele, treten am 2. Januar gegen Biel an, dürfen am 3. Januar drei Punkte in Rapperswil-Jona abholen und am 5. Januar daheim Lugano demütigen. Läuft es wie geplant, kann sich der Meister gleich nach dem Spengler Cup vom Strich absetzen.
In alten Zeiten war die Frage: Nimmt der HC Davos den Spengler Cup-Schwung mit in die Meisterschaft? Das war in den 1980er-Jahren. Vor der Einführung der Playoffs (1986). Und tatsächlich: Der Spengler Cup brachte die Davoser in einer beschaulichen Meisterschaft auf Touren. Mehrmals rockten sie im Januar, mit Spengler-Cup-Tempo in den Beinen, ganz anders als vor der Festtagspause.
Aber jetzt? Bei so vielen Partien in so wenig Tagen? Davos spielt den Spengler Cup wenigstens vor der eigenen Haustüre. Jeder kann am Abend daheim im eigenen Bett schlafen. Aber für Ambri ist es eine grosse Party. Viel Aufregung. Nächtigen im Hotel und anstrengende Spiele.
Ist der Spengler Cup also Fluch oder Segen für Ambri? Der Pessimist neigt zur Ansicht, Ambri tanze auf zu vielen Hochzeiten und der Spengler Cup sei neben der Champions Hockey League, dem Cup und der Meisterschaft die Hochzeit zu viel. Statt zu ruhen setze sich Ambri in der Altjahrswoche völlig unnötig viel Stress aus. Das könne am Ende die Playoffs kosten. Also: Der Spengler Cup ist mehr Fluch als Segen.
Aber es gibt auch eine ganz andere Sichtweise. Natürlich sind diese zusätzlichen Spiele eine Belastung. Aber Sportchef Paolo Duca vertritt die Meinung, dass Ambri eher die Zusatzpartien aus der Champions League im Spätsommer spüre. Jedenfalls stürzt sich Ambri nicht blindlings ins Spengler-Cup-Abenteuer. Bei der Saisonplanung ist diese Zusatzbelastung sorgfältig berücksichtigt worden.
Entscheidend ist letztlich, wie es die Spieler sehen und fühlen. Für Marco Müller, Ambris besten Schweizer Skorer, ist nämlich klar: «Wir werden nicht Energie verlieren. Wir werden Kräfte tanken. Der Spengler Cup ist ein riesiges Erlebnis für jeden Spieler. Seit meiner Kindheit träume ich davon, einmal beim Spengler Cup dabei zu sein. Ich habe immer wieder vergeblich gehofft, dass mich eine Mannschaft einmal als Verstärkung aufbietet. Aber leider wollte mich nie jemand. Und jetzt geht dieser Traum mit Ambri in Erfüllung.»
Der Spengler Cup also als Motivation, als Erlebnis, das die Mannschaft über die Festtage noch mehr zusammenschweisst und Schwung und Dynamik in die letzte Phase der Qualifikation bringt. So kann es sehr wohl sein.
Und da ist noch etwas: Während der Erzrivale Lugano gerade dabei ist, Krisensitzungen abzuhalten, darf Ambri sich im Schaufenster des internationalen Hockeys präsentieren. Während der Festtagspause wird Ambri jeden Tag das wichtigste und schönste Sport-Thema im Tessiner Fernsehen sein. Über Lugano werden hingegen Krisenanalysen gesendet. Ruhm für Ambri, Spott für Lugano.
Ein wenig tröstet der Auftritt in Davos oben auf der grossen Bühne auch Ambris grossen Vorsitzenden Filippo Lombardi über die Abwahl aus dem Ständerat hinweg. Er wird sich zu inszenieren wissen.
Die Spengler Cup-Teilnahme mag vielleicht Kräfte kosten. Aber sie fördert die Mystifizierung und den ewigen Ruhm des Phänomens Ambri. Das ist sowieso wichtiger als ein paar Siege und eine Playoff-Qualifikation.
Forza Ambri!
🙃