So lautet eine Zeile aus dem Lied «Am Borsigplatz geboren», das vor jedem Heimspiel von Borussia Dortmund im Westfalenstadion gespielt wird. Dabei geht es zwar um den Beinahe-Konkurs in den Jahren 2004 und 2005, doch könnte man diese Aussage genauso gut auf den 27. Mai 2023 ummünzen.
An diesem Tag verpasste der BVB nämlich die Meisterschaft, weil er am letzten Spieltag gegen Mainz nicht über ein 2:2-Unentschieden hinauskam. Es wäre der erste Bundesliga-Titel seit der Saison 2011/12 gewesen. Ein ganzer Verein und gefühlt die ganze Stadt versank im Tränental. In der vollen Innenstadt hätte man danach trotz der vielen Leute wohl eine Stecknadel fallen gehört. So ruhig war es.
Die Dortmunder mussten dem Konkurrenten aus München somit zum elften Mal in Serie beim Feiern zusehen. Anders als in der deutschen Liga, wo die Schwarz-Gelben eine enttäuschende Saison spielten, schien das Erleben dieser immensen Enttäuschung in der Champions League tatsächlich neue Kräfte freigesetzt zu haben.
Mit starken Auftritten erreichte der Aussenseiter in der Todesgruppe mit PSG, Milan und Newcastle nicht nur die Achtelfinal-Qualifikation, sondern gar den Gruppensieg. Auch im Viertelfinal gegen Atlético Madrid und vor allem dem Halbfinal, in dem es erneut gegen Kylian Mbappé und Paris Saint-Germain ging, wurden Dortmund keine grossen Chancen ausgerechnet. Und doch steht der BVB nun im Final der Champions League, in dem es am Samstagabend in Wembley gegen Real Madrid geht (21 Uhr, live bei 3+).
«Wir haben uns den Weg ins Endspiel verdient», sagt Trainer Edin Terzic. Nun warte aber eine unglaublich starke Mannschaft, der Endgegner, fast schon ein Mythos. «Die haben fünf der letzten zehn Champions-League-Titel gewonnen, sie haben eine Menge Erfahrung in diesen Spielen», staunt der 41-Jährige, weiss aber auch: «Es ist nur ein Spiel. Das ist unsere Chance: Wenn wir zehnmal gegen Real Madrid spielen müssten, wird es wahrscheinlich eng. Aber in einem Spiel – in 120 Minuten plus Penaltyschiessen – können wir jeden Gegner dieser Welt besiegen.»
Ähnlich sieht dies auch Marco Reus, der den Gegner für seine unfassbare Qualität lobt und sagt: «Sie sind sich die Situation gewohnt und werden wahrscheinlich weniger nervös und aufgeregt sein als wir.» Doch das sei für das Spiel nicht entscheidend. «Am Ende kann alles passieren. Wir werden unglaublich unterstützt werden. Diese Energie, die im Stadion und der Stadt herrschen wird, müssen wir als Verein bündeln», so der 35-Jährige.
Reus ist eine der ganz grossen Geschichten dieses Finalspiels. Für den gebürtigen Dortmunder, der 2012 zu seinem Jugendklub und Herzensverein zurückkehrte, wird es das letzte Spiel im BVB-Trikot sein. Seit er seinen Abschied angekündigt hat, ging es für den gesamten Klub und seine Fans eigentlich nur noch darum, ihm ein perfektes Ende zu bereiten. Und was gäbe es Schöneres als einen Champions-League-Final in Wembley gegen Real Madrid?
«Das ist fast schon zu kitschig», findet Mats Hummels, bei dem ebenfalls ein Abgang im Raum steht. Reus sagt trocken: «Es gibt schlechtere Weisen, um beim BVB aufzuhören.» Für ihn schliesst sich aber auch ein Kreis, da er bereits in seiner ersten Saison bei den Dortmundern im Final der Königsklasse stand. Ebenfalls im Wembley, damals im Mai 2013 aber gegen Bayern München. Die Partie ging 1:2 verloren, eine offene Rechnung sieht Reus trotzdem nicht: «Es ist elf Jahre her. Ausserdem ist es ein anderer Gegner mit anderen Spielern.»
Dennoch ist der Titel natürlich das Ziel. «Man kann sich gar nicht vorstellen, was am nächsten Tag in Dortmund los wäre», sagt Reus. Sollte der Offensivspieler mit seinen Kollegen am Sonntag beim im Siegesfall geplanten Corso vom Borsigplatz aus durch die Stadt den Henkelpott präsentieren können, wäre das genau dieser perfekte Abschied, den sich ganz Dortmund für ihre Nummer 11 vorstellt.
Denn anders als Hummels hat er die glorreichen Zeiten unter Jürgen Klopp nur zu einem Teil miterlebt. Als Reus 2012 aus Mönchengladbach nach Dortmund kam, hatte der BVB gerade zum zweiten Mal in Folge den Meistertitel gewonnen und war ausserdem Double-Sieger. Seither kamen lediglich zwei DFB-Pokal-Triumphe hinzu. Ein Titel in der Bundesliga, der einen höheren Stellenwert hat als der Cupsieg, blieb Reus verwehrt. Nun bekommt der 48-fache Nationalspieler, der Deutschlands WM-Titel 2014 verletzt verpasste, seine letzte Chance auf einen ganz grossen Titel.
Eine besondere Geschichte schreibt auch Niclas Füllkrug. Noch vor zwei Jahren feierte er den Aufstieg aus der 2. Bundesliga mit Werder Bremen. Vor einem Jahr kam er dann als zusätzlicher Stürmer nach Dortmund, um Sébastien Haller nach dessen schwachem Saisonstart Konkurrenz zu machen. Füllkrug machte fast jedes Spiel und obwohl die Fans ihn immer wieder kritisierten und er gegenüber «11Freunde» offenbarte, dass ihm das zu schaffen mache, lieferte er mit 15 Saisontoren und 10 Assists in 42 Spielen sehr anschauliche Statistiken.
Vor dem grössten Spiel seiner Karriere sagt der 31-jährige Torjäger bescheiden: «Es muss sehr, sehr viel passieren, dass man einen Champions-League-Final überhaupt einmal spielen darf.» Auch, weil es einige Weltklassespieler gebe, denen dies aus verschiedenen Gründen nie vergönnt war, sei er «sehr dankbar, dieses Spiel spielen und das alles erleben zu dürfen».
Vor Ehrfurcht erstarren sollten die Dortmunder angesichts der grossen Bühne und Weltstars wie Toni Kroos, Jude Bellingham oder Vinicius Jr. auf der gegnerischen Seite aber nicht. Schliesslich geht es gemäss Trainer Terzic auch darum zu zeigen, «dass man nicht unbedingt das grosse Geld in die Hand nehmen muss, um einen solchen Titel zu gewinnen».
In den Augen vom scheidenden Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke ist es gar ein Vorteil, dass man auf ein Team wie den 14-fachen Champions-League-Sieger trifft: «Der BVB hat in seiner DNA, dass wir gegen besonders starke Gegner in der Regel auch Herausragendes leisten – speziell international.» In der Aussenseiterrolle fühle sich Dortmund sehr wohl. «Aus diesem Final können wir nicht als Verlierer hervorgehen, sondern nur als der ganz, ganz grosse Gewinner», so der 64-jährige Watzke.
Wichtig wäre der Titel dennoch. Um das Trauma aus dem Vorjahr zu überwinden. Um Marco Reus zu krönen und möglicherweise auch Mats Hummels einen traumhaften Abschied zu ermöglichen. Sollte dies gelingen, würden die Zeilen aus «Am Borsigplatz geboren» endgültig perfekt auf diese Saison passen: