Er ist ein Connaisseur, ein Fussball-Liebhaber, ein international anerkannter Kenner der Materie: Lucien Favre verfolgt das europäische Business auch 17 Monate nach seiner Dernière beim OGC Nice mit der ihm eigenen Akribie. Wenige Tage vor dem Champions-League-Final hat der 66-Jährige seinen Ex-Arbeitgeber Dortmund und den spanischen Rekordsieger Real Madrid unter die Lupe genommen.
Für den Westschweizer ist die finale Konstellation keine exemplarische Überraschung. Die Teams aus Spanien und Deutschland hätten ihn überzeugt – mehr jedenfalls als die hochdekorierten und wirtschaftlich führenden Vertreter der Premier League. «Es ist nicht die Wahrheit, dass England die beste Liga hat. Und auch in anderen Ligen arbeiten sehr gute Coaches.»
Carlo Ancelottis Philosophie der Teamführung beeindruckt den zwei Jahre älteren Romand. «Er bleibt ruhig, er verliert nie die Fassung. Ancelotti hat in München, Neapel und später bei Everton sechs komplizierte Jahre erlebt. Seine Prinzipien hat er trotzdem nie aufgegeben.» An eine eigene flüchtige Begegnung mit dem italienischen Gentleman erinnert sich Favre: «Ich spielte mit Dortmund einmal gegen ihn – er war damals Trainer bei Napoli. Carlo ist ein sympathischer Mensch.»
Besser kennt Favre Ancelottis Antipoden. Die grösste Schweizer Trainer-Persönlichkeit der letzten drei Dekaden weiss, wie die fussballverrückte Stadt tickt. Während fast zwei Spielzeiten gab der Waadtländer in Dortmund den Takt vor. «Ein spezieller Ort. Die gelbe Wand, das unfassbar laute Publikum. Sie leben mit einer wahnsinnigen Wucht. Ich werde nie vergessen, welchen Stellenwert der Fussball in dieser Region Deutschlands besitzt», schwärmt Favre.
Mit Edin Terzic hat Lucien Favre während seiner zweieinhalbjährigen BVB-Amtszeit eng kooperiert. Der damals aufstrebende Jung-Coach spielte eine überaus aktive Rolle im Coaching-Stab: «Ich habe ihn als sehr wichtiges Staff-Mitglied in Erinnerung, das viel Eigeninitiative entwickelte und auch Ideen eingebracht hat. Edin bereitete sich auf seine Coach-Laufbahn vor – das ist nichts als normal.»
Als Favres Ära beim BVB am 13. Dezember 2020 nach 110 Partien trotz einem Schnitt von über zwei Punkten endete, war für die Klubleitung um Aki Watzke tatsächlich sofort klar: Terzic, ein (Nachwuchs-)Mann aus den eigenen Trainerreihen, übernahm den Posten. «Das war aus Sicht des Vereins nachvollziehbar.» Schlechte Gefühle sind keine zurückgeblieben: «Wir hatten nie ein Problem miteinander.»
Die Wertschätzung beruht auf Gegenseitigkeit. Er habe viel von Favre lernen können, liess Terzic via Medien ausrichten. Favre attestiert dem Ur-Dortmunder neben einer Menge Inside-Wissen ein umfassendes Klub-Commitment: «Er war bereits als Kind ein BVB-Fan. Edin ist ein emotionaler Mensch, aber er denkt auch sehr analytisch. Er machte schon früher als Assistent teilweise die Spielanalyse.»
Favre erkennt eine Handschrift, einen Plan, eine tiefgründige Überzeugung. «Dortmund ist fähig, auch mal abzuwarten, sie können ungemein kompakt spielen. Ich sehe viele Varianten. Manchmal pressen sie hoch, dann warten sie wieder ab und kontern.» Dem Trainer mit dem Fundus von weit über 800 Profi-Spielen entgeht selbstredend kein Detail. Der Speed der Deutschen gefällt ihm: «Spieler wie Adeyemi und Sancho können mit ihrem Tempo den Unterschied erzwingen.»
Seinen Ex-Spieler Sancho sieht er nach dessen Comeback in Dortmund als Schlüsselfigur: «Er kann ein Game-Changer sein. Er spürt den Fussball und geniesst inzwischen wieder sein altes Selbstvertrauen.» Apropos Unterschied – Gregor Kobel stuft Beobachter Favre ganz hoch ein: «Auf ihn kann sich der BVB verlassen. Er ist top – Punkt! Auch in den nächsten zehn Jahren hat die Schweiz kein Goalieproblem.»
Eine klare Prognose sei mit Blick auf den wichtigsten Europacup-Final nicht machbar, so Favre. «Sind die Madrider die Weltbesten? Schwer zu sagen. Sie sind schon lange ganz oben. Real ist fast immer da. Ein Mythos, klar! Ein unglaublicher Verein.» Ihn fasziniere, wie hart das aktuelle Star-Ensemble arbeite auf dem Rasen: «Sie sind eine Einheit. Manchmal verteidigen zehn Spieler – nur Vinicius kommt nicht gerne zurück.»
Nebst dem Spektakelgaranten Vinicius Jr. erwähnt Favre den deutschen Taktgeber Toni Kroos: «Ich weiss noch, wie er bei Bayern in den Spielen gegen Gladbach der Stabilisator der Münchner Offensive war. Ein unglaublicher Spieler, ein Winner. Ihn werden sie in Madrid vermissen.» Und mit einem weiteren Real-Hauptdarsteller hat er wichtige Berührungspunkte: mit Jude Bellingham.
Im zarten Alter von 17 schnuppert das englische XXL-Talent im Herbst 2020 im BVB-Shirt unter Favre erstmals Bundesliga-Luft. «Die Mama begleitete ihn zum Training, weil er selber ja gar nicht Auto fahren durfte», schmunzelt sein Ex-Mentor im Rückblick. Oft hat das Trainer-Team das Ausnahmetalent zur Sonderschicht aufgeboten: «Koordination, Technik, Beinarbeit, Abschluss, Volley. Beim Schiessen hatte er zu Beginn noch Steigerungspotenzial.»
Knapp vier Jahre später ist Bellingham mit 19 Toren der Topskorer des spanischen Champions Real. Experten beziffern seinen Marktwert mit 180 Millionen Euro. Für Favre war seine Entwicklung absehbar: «Jude war schon früh sehr ambitioniert. Er zeigte Mentalität und Spass – und er wollte immer Fortschritte machen.» (nih/sda)