«Hallo, ich bin Albert», werde ich in Heiden freundlich begrüsst von dem Mann, in dessen Hände ich in den nächsten Stunden quasi mein Leben legen würde. Albert Wolke ist der Chauffeur des Direktions-Autos Nummer 2 der Tour de Suisse. Er fährt Tour-Direktor Olivier Senn und dessen Gäste (an diesem Mittwoch also mich) in den Etappen jeweils von A nach B. Und das auf Rennstufe. Was das heisst, werde ich an diesem Tag auf eindrückliche Art und Weise erfahren.
Als wir kurz vor Mittag im Kanton Appenzell Ausserrhoden losfahren, fühlt es sich mehr nach einem entspannten Ausflug an. Einfach etwas näher dran am Renngeschehen. Zumindest bis die neutralisierte Rennphase zu Ende ist. Kaum hat das Feld das Rheintal erreicht, legen die Radprofis los, als gäbe es kein Morgen. In der ersten Rennstunde jagt ein Angriff den nächsten. Fast 60 Kilometer legen wir zurück. Und schon bald ist klar: Das wird eine Etappe, die mit einem Affenzahn absolviert wird.
Die neutralisierte Startphase nutzt Olivier Senn dazu, alle Kommunikationskanäle zu testen. Funktioniert die Verbindung zu «Radio Tour»? Ist die Sicherheitszentrale besetzt? Sind alle Autos am richtigen Ort innerhalb des Trosses? Auf Rennstufe hat Sportdirektor David Loosli das letzte Wort. Viele Probleme oder Unklarheiten werden jedoch partnerschaftlich mit den verschiedenen Playern gelöst. Hierarchien dürfen in der Hitze des Gefechts sowieso keine Rolle spielen.
Olivier Senn ahnt, dass die 4. Etappe eine schnelle werden könnte. Schon früh meldet er per Funk: «Fahrt bitte aufmerksam. Es könnte heute schnell losgehen. Haltet genügend Abstand.» Ja, der Abstand – er ist eigentlich ein Dauerthema, wenn man sich mitten im Tour-Peloton bewegt. Die drei Direktionsfahrzeuge bewegen sich immer an strategisch günstigen Orten, meist wenige hundert Meter vor der Spitze oder eines Verfolgerfelds.
Auch deshalb geht der Blick von Senn und von Wolke immer wieder in den Rückspiegel. Die Fahrer dürfen nicht zu nahe kommen. Was vor allem in der ersten Rennstunde auf der flachen Strecke Richtung Graubünden verblüffend ist: Während wir die Dörfer im Rheintal mit Tempi über 60 km/h flott passieren und ich das Gefühl habe, wir seien dem Fahrerfeld längstens entflohen, werde ich beim Blick nach hinten eines Besseren belehrt. Ein Angriff nach dem anderen wird lanciert, die Spitze des Pelotons ist immer in Sichtweite. Trödeln verboten.
So geht das unentwegt weiter bis an den Fuss der Steigung Richtung San Bernardino/Splügen in Thusis. Dort bildet sich dann endlich eine Spitzengruppe, das Renngeschehen beruhigt sich etwas, aber wirklich langsamer werden die Fahrer deswegen nicht. Trotzdem sagt Olivier Senn bald einmal: «Jetzt, da wir in die Berge kommen, sinkt mein Puls massiv. Es hat weniger Verkehr und weniger Leute. Kein Vergleich zu den urbanen Gebieten, wo punkto Sicherheit viel mehr Druck herrscht.»
Apropos Sicherheit: Das Zusammenspiel der verschiedenen Instanzen der Streckensicherung ist faszinierend. Die Polizei und der Sicherheitsdienst sperren mit zahlreichen Töffs immer wieder Zufahrten zur Strecke, die nicht von der stationären Polizei, dem Zivilschutz oder dem Militär bewacht werden können. Einmal beschwert sich der Sicherheitskoordinator über Funk, dass die vor dem eigentlichen Tour-Tross fahrenden Teamautos alles blockieren und die gewünschten Abstände so nicht mehr eingehalten werden können. Olivier Senn greift prompt zum Funkgerät und befiehlt den herumtrödelnden Mannschaftswagen, dass sie Gas geben sollen.
Was folgt, ist die Ruhe vor dem Sturm. Die Anfahrt zum Haupthindernis des Tages, dem Splügen, ist entspannt. Albert Wolke gibt Gas. Durch den herausgefahrenen Vorsprung können wir sogar eine kurze Pause am Strassenrand machen. «Jetzt könntest du auch ein Nickerchen machen», sagt mir Senn augenzwinkernd. Und wohl im Wissen, dass ich mir wenige Minuten später diese ruhigen Momente herbeisehnen würde.
Kaum geht es nämlich hoch Richtung Splügenpass, wird’s hektisch. Hinten greift der Portugiese João Almeida an und taucht bald in unserem Rückspiegel auf. Auch hier die verblüffende Erkenntnis: Wir fahren mit dem Auto ziemlich flott die Passstrasse hoch – und kommen trotzdem nicht wirklich weit weg vom bergauf jagenden Portugiesen.
Aber das ist alles nur ein Kindergeburtstag im Vergleich zu dem, was das «Grande Finale» dieser Etappe noch zu bieten haben würde: die gut 40 Kilometer lange Abfahrt mit den 51 nummerierten Kurven hinunter von der Splügen-Passhöhe ins Veltlin. Mamma Mia! Jetzt wird aus dem Duo Wolke/Senn eine Rallye-Combo. Pilot Wolke brettert die Passstrasse mit bis zu 100 Sachen runter, vorbei an den hektisch winkenden und trillerpfeifenden Sicherheitsposten vor den gefährlichen Stellen. Beifahrer Senn gibt Anweisungen.
«Achtung, Haarnadelkurve links, dann sofort wieder eine rechts», instruiert Senn, der immer den Bildschirm mit dem «Velo Viewer» im Blickfeld hat. Dort werden alle gefährlichen Punkte der Strecke angezeigt. Zwischendurch ruft der Tour-Direktor mal wieder ein «langsamer!» – oder schlimmer: ein «schneller!», wenn, man mag es angesichts unserer halsbrecherischen Fahrweise kaum glauben, tatsächlich wieder João Almeida von hinten gefährlich näher kommt. Die Abstände halt!
Schliesslich landen wir unbeschadet in Piano im schönen Veltlin. Olivier Senn ist zufrieden und froh, dass der Tag ohne gravierende Zwischenfälle über die Bühne gegangen ist. Albert Wolke ist die Erschöpfung etwas anzusehen. Aber er sagt lächelnd: «Das hat schon Spass gemacht. Jetzt habe ich mir ein Bierchen verdient.» Na dann Prost.