Selbst Cristiano Ronaldo musste es im Halbfinale der Champions League merken: Mit Stephan Lichtsteiner ist auf dem Fussballfeld meistens nicht gut Kirschen essen.
Es ist Lichtsteiners aufbrausende Art, welche den Schweizer Fussballfan immer wieder staunen lässt. Woher nimmt er dieses Selbstvertrauen, um mal eben so einem Weltfussballer die Meinung zu sagen? Er, der neben dem Platz so gar nicht exzentrisch wirkt. Er, der sich mit seiner Spielweise immer ganz in den Dienst der Mannschaft stellt.
«Stephan ist ein Wettkampftyp. Wenn etwas in seinen Augen nicht korrekt läuft, dann will er dies unbedingt ändern», meint Vater Reto Lichtsteiner im Gespräch mit watson. Und im Namen der Gerechtigkeit macht der 31-Jährige halt auch immer wieder von seinem Mundwerk Gebrauch.
Dass dieser Schuss auch mal nach hinten losgehen und eine gelbe Karte zur Folge haben kann, weiss auch Papa Lichtsteiner: «In vielen Situationen nützt Stephan mit seiner leidenschaftlichen Art der Mannschaft, in anderen weniger.» Doch so sei halt Stephan und in Italien respektiere man dies mittlerweile auch. «Heute ‹hören› die Schiedsrichter Stephan zu. Er ist nicht mehr irgendein dahergelaufener Schweizer Junge, sondern hat sich einen Namen gemacht und Respekt erarbeitet.»
Seit vier Jahren spielt Stephan Lichtsteiner nun für Juventus Turin, vier Mal wurde er in dieser Zeit bereits italienischer Meister. In diesem Winter hat er den Vertrag bei der «Alten Dame» bis 2017 verlängert. Der Schweizer fühlt sich wohl in Turin und wohnt mit seiner Frau und seinen zwei Kindern mitten in der Stadt.
Klar, der Rummel um Lichtsteiners Person habe in diesen Tagen schon zugenommen, erzählt Reto Lichtsteiner, «doch normalerweise ist es für Stephan kein Problem in Turin herumzulaufen, essen zu gehen und mit seinen Kindern auf einem öffentlichen Spielplatz zu spielen.» Die Turiner seien sehr anständig und würden Lichtsteiners Privatsphäre meistens respektieren.
Die Nähe zur Schweiz sei sicher auch ein Grund, weshalb Turin sich zu einem absoluten Glücksfall für Lichtsteiner entwickelt habe, so Reto Lichtsteiner. Nur gerade vier Stunden dauert die Fahrt von der Hauptstadt des Piemonts in die Innerschweiz.
Vier, fünf Mal pro Jahr kommt Stephan Lichtsteiner so seine Familie und Freunde in der Schweiz besuchen. «Viel zu wenig», wie sein Vater schmunzelnd behauptet. Er selber fahre dafür sicher auch ein halbes Dutzend Mal pro Jahr nach Turin.
Stephan Lichtsteiner fühlt sich seiner Heimat nach wie vor sehr verbunden. Zu jenem Ort, wo er sich im Alter von sechs Jahren zum ersten Mal die Fussballschuhe geschnürt hat: Beim FC Adligenswil. Sein erster Trainer war damals übrigens der Vater, Reto Lichtsteiner.
Bereits nach wenigen Monaten klopfte der FC Luzern an und wollte den Knirps zu sich holen, doch sein Vater intervenierte und behielt ihn beim FC Adligenswil. Dort liess er den kleinen Stephan auf allen Positionen spielen. Mal hinten, mal vorne, mal im Mittelfeld.
Dies erklärt denn auch, weshalb Stephan Lichtsteiner seine Rolle als Aussenverteidiger weit breiter interpretiert, als nur Alibi-Pässe zu schlagen und Tore zu verhindern. Juves Nummer 26 möchte das Offensivspiel der Alten Dame mitprägen, ein kreatives Element in der Mannschaft sein.
Mit der offensiven Spielweise geht aber auch ein gewisses Risiko einher. Dies mussten letzten Sommer beispielsweise die Fans der Schweizer Fussball-Nati schmerzhaft feststellen.
In der 118. Minute des Achtelfinals Schweiz gegen Argentinien ist es Stephan Lichtsteiner, der in der Vorwärtsbewegung an Rodrigo Palacio den Ball verliert. Nur Sekunden später hängt derselbe Lichtsteiner ausgepumpt und enttäuscht im Tornetz: Angél di Maria hat den Schweizern kurz vor der grossen Sensation das Genick gebrochen.
«Der Grat zwischen Zero und Hero ist sehr schmal», so Reto Lichtsteiners Analyse zu dieser verhängnisvolle Szene. «Wenn er den Ball einfach wegdrescht, goutiert dies das Publikum sicher auch nicht.»
Es ist auch nicht der Normalfall, dass solche Fehler an der Mittellinie derart hart bestraft werden. Doch neben Rodrigo Palacio stand da halt auch ein Lionel Messi, welcher mit seinem Antritt das Mittelfeld im Nu überwinden konnte und dann noch die Übersicht hatte, die Pille butterweich auf Di Maria zu spielen.
Dieser Lionel Messi wird Stephan Lichtsteiner auch morgen Abend in Berlin wieder gegenüberstehen. «Da ist sicher noch eine Rechnung offen», so Reto Lichtsteiner. Direkter Gegner wird aber voraussichtlich nicht der Argentinier sein, sondern dessen kongenialer Sturmpartner Neymar.
Es gibt definitiv angenehmere Aufgaben, als einen Neymar in der momentanen Form auszuschalten. Aber Stephan Lichtsteiner macht sich laut seinem Vater deswegen nicht mehr Sorgen als vor anderen Partien: «Für Stephan ist auch Neymar schlussendlich bloss ein Mensch mit zwei Beinen und einem Ball zwischen den Füssen, den er ihm wegnehmen möchte.»
Doch das wird schwierig: Obschon sich Vater Reto ein 1:0 oder ein 2:1 für die Juve wünscht, ist auch ihm bewusst, dass die Italiener gegen Barça wohl bloss die Aussenseiter sind. Der grossen Vorfreude tut dies dennoch keinen Abbruch: Rund ein Dutzend Familienmitglieder werden Stephan im Berliner Olympiastadion die Daumen drücken.
Die Klubführung von Juventus hat natürlich dafür gesorgt, dass «la famiglia», Frau und Kinder der Spieler, ebenfalls eingeflogen werden. Den Weg ins Stadion werden die vierjährige Tochter und der erst sieben Monate alte Sohn von Stephan Lichtsteiner indes nicht mitmachen. Zu laut ist es da. Zwar nicht ganz so ohrenbetäubend im Juventus Stadium, wo Papa Lichtsteiners Ohren nach dem Halbfinal gegen Real Madrid richtig weh taten. Doch Reto Lichtsteiner ist sich sicher, «auch in Berlin wird eine ganz spezielle Stimmung herrschen.»
Und würde es Stephan Lichtsteiner tatsächlich schaffen, im imposanten Berliner Olympiastadion nach der italienischen Meisterschaft und dem Cup auch noch die Champions League zu gewinnen, dann wäre das laut seinem Vater nicht das berühmte Tüpfchen auf dem i, sondern «die Kirsche auf dem Eis mit Schlagrahm». Ja und diese Kirsche, die wäre auch mit Stephan Lichtsteiner sehr gut essen.