Wenn sich im heutigen Europa-League-Final Manchester United und Tottenham Hotspur gegenüberstehen, ist dies das Duell des 16. und des 17. der Premier League. Für beide Kontrahenten wäre der Titel also kaum mehr als ein Trostpreis nach einer ansonsten extrem enttäuschenden Saison.
Dennoch wäre ein Sieg im San Mamés in Bilbao besonders für Manchester United von immenser Bedeutung. Kieran Maguire, ein renommierter Experte für Finanzen im Fussball, sprach bei der BBC vom «finanziell wichtigsten Spiel der Vereinsgeschichte». Zwar gibt es lediglich fünf Millionen Pfund (ca. 5,5 Mio. Franken) zusätzlich für den Finalsieg, doch hängt damit eben auch die Qualifikation für die Champions League zusammen. Ticket- und TV-Einnahmen inklusive würde eine Teilnahme an der Königsklasse gemäss Maguire über 100 Millionen Pfund (ca. 110,5 Mio. Franken) bringen.
Angesichts des Schuldenbergs in Höhe von über einer Milliarde Pfund (1,1 Mia. Franken) und Verlusten von 113 Millionen Pfund (ca. 125 Mio. Franken) alleine im letzten Jahr, würden diese Einnahmen bei Manchester United zumindest für etwas Entlastung sorgen. Insgesamt schrieben die Red Devils über die vergangenen drei Jahre ein Minus von über 300 Millionen Pfund (ca. 332 Mio. Franken), was zu Sorgen bezüglich der Finanzregularien der Premier League führte. Dies liegt auch an den hohen Gehaltskosten und den ausstehenden Ratenzahlungen für die Transfers von unter anderem Antony oder Casemiro, die beide im Sommer 2022 nach Manchester kamen.
Daher benötige der Klub die Einnahmen aus der Königsklasse nur schon, um die laufenden Kosten für den Kader zu berappen, wie Finanzexperte Maguire weiss. Um neue Spieler zu verpflichten, die Trainer Ruben Amorim für eine Weiterentwicklung des Teams nach seinen Vorstellungen unbedingt braucht, müssten hingegen zusätzlich teure Profis wie die derzeit verliehenen Marcus Rashford oder Jadon Sancho verkauft werden. Die Verpflichtungen von Transferzielen wie Stürmer Matheus Cunha von Wolverhampton, welche die Fans herbeisehnen, hängen somit auch mit dem Ausgang des bevorstehenden Endspiels zusammen. Eine zweite Saison ohne Champions League hätte zudem eine Strafzahlung an Ausrüster Adidas in Höhe von 10 Millionen Pfund (ca. 11 Millionen Franken) zur Folge.
Wie dramatisch die Situation beim englischen Rekordmeister ist, zeigten auch Aussagen von Entscheidungsträger und Minderheitsaktionär Sir Jim Ratcliffe im Frühling. Damals erklärte er der BBC seine Sparmassnahmen: «Manchester United hätte Ende dieses Jahres kein Geld mehr, wenn wir das nicht tun würden. Obwohl ich 232,7 Millionen Pfund (ca. 257,5 Mio. Franken) investiert habe und selbst wenn wir keine Spieler kaufen würden.» Deshalb seien die bis zu 450 Entlassungen und das Streichen der Gratis-Mahlzeiten für die Angestellten der Geschäftsstelle nötig. «Ich weiss, dass ich derzeit unbeliebt bin», sagte der INEOS-Gründer dazu, «aber damit kann ich leben, weil ich glaube, dass wir das Richtige tun.»
Der Grund für die Schulden ist vor allem die Besitzerfamilie Glazer, die den Kredit, den sie benötigte, um Manchester United 2005 zu übernehmen, zu mehr als der Hälfte auf den Klub abgewälzt hat. Seither bezahlte ManUnited gemäss «The Athletic» rund 800 Millionen Pfund (ca. 884,5 Mio. Franken) an Schuldzinsen. Die Familie habe am Klub rund 1,35 Milliarden Pfund (1,49 Mia. Franken) verdient, investierte aber nicht einmal einen Bruchteil davon.
Neben dem finanziellen Aspekt hat der Final aber auch für Trainer Amorim eine grosse Bedeutung. Der Portugiese, der im November von Erik ten Hag übernommen hat, legte den schlechtesten Start eines ManUnited-Trainers seit 100 Jahren hin. Aus den letzten acht Ligaspielen sammelten die Red Devils lediglich zwei Punkte. Ein europäischer Titel würde nicht nur den Fans, sondern auch dem 40-Jährigen selbst etwas Hoffnung zurückbringen. Amorim äusserte immer wieder öffentlich Zweifel daran, ob er am Ende der richtige Mann für den Klub sein kann.
Nun sagte er gemäss «The Athletic»: «Alle sprechen über den Final. Aber unser Klub hat andere, grössere Probleme.» Nach der Saison gebe es viele Dinge, die angepasst werden müssen. Dennoch stellte Amorim klar: «Die Champions League kann alles verändern.» Die Königsklasse, nicht der Europa-League-Titel, sei «der beste Weg, um in einigen Jahren wieder an die Spitze zu kommen». Zwar hat der Trainer die Unterstützung von Ratcliffe sowie den weiteren Verantwortlichen und zuletzt äusserte auch Klublegende David Beckham sich positiv zu ihm, doch gab Amorim zu: «Wenn wir den Final verlieren, wird es ziemlich schlimm sein. Die Geduld der Fans wäre nächste Saison so gut wie am Ende.»
Am Scheideweg sieht den Klub auch der frühere Assistenztrainer von Sir Alex Ferguson, René Meulensteen. «Ein Sieg in der Europa League würde die katastrophale Saison nicht wettmachen», sagt der 61-jährige Niederländer zur BBC und fügt an: «Aber wenn sie nicht gewinnen, wieso sollten wir nächste Saison dann etwas anderes erwarten?» Meulensteen spricht den finanziellen Aspekt ebenfalls an und sagt: «Wenn wir Europa verpassen, mache ich mir echt Sorgen um unsere Zukunft.»
Auf der Gegenseite ist der Druck deutlich geringer. Zwar wäre der Europa-League-Titel nach dieser Saison auch für Tottenham Hotspur Balsam für die Seele. Zumal es der erste Titel seit dem Ligacup 2007/08 wäre und es auch für Trainer Ange Postecoglou um seinen Job geht. Doch haben die Spurs in jedem Fall einen grossen Handlungsspielraum, um Veränderungen vorzunehmen. «Sie sind das am besten laufende Business der Premier League», sagt Finanzexperte Maguire dazu. Der Klub könne auch abseits vom Fussball eine Menge Geld einnehmen – unter anderem dank des Stadions, das für NFL-Spiele und Konzerte verwendet wird.
Für die Spurs geht es also vor allem darum, eine schlechte Saison versöhnlich zu beenden und der langen Durststrecke ohne Titel ein Ende zu setzen. Für Manchester United geht es hingegen um viel mehr als nur den Trostpreis Europa League.