Gölä bleibt uns beim Festakt am Sonntagmorgen, anders als 2019 in Zug, Gott sei Dank erspart. Dafür singt Francine Jordi so wunderschön. Wie eine aus dem Sägemehl auftauchende Mireille Mathieu. Ach, wie gehen da die Herzen beim melancholisch-melodischen Gesang der «Sägemehl-Nachtigall» auf. Nicht nur die vaterländischen.
Pratteln 2022 geht als eines der besten Eidgenössischen in die Geschichte ein. Wer sagt, es sei gar das Beste, hat gute Argumente. Nicht nur, weil Francine Jordi so schön gesungen hat. Nicht wegen der Organisation. Die ist sowieso bei den Eidgenössischen jedes Mal tipptopp. Sondern weil Pratteln sportlich – also schwingerisch – das Fest der Feste war. Gekrönt von einem Schlussgang, der als der dramatischste, intensivste, beste seit Menschengedenken in die Geschichte eingeht.
Und nicht nur das: Noch nie hatten wir diese Ausgeglichenheit zwischen den Titanen des Westens (Bern), des Zentrums (Innerschweiz) und des Ostens (Nordostschweiz). Und selbst die Nordwestschweizer, seit Max Widmers Königstitel von 1958 zu oft nur Dekoration wie die Kranzjungfrauen bei den Königskämpfen zwischen den Bernern, den Inner- und Nordostschweizern, sind böse geworden (im Schwingen sind die Bösen die Guten). Es war dem Aargauer Nick Alpiger vorbehalten, Christian Stucki im sechsten Gang definitiv vom Thron zu stossen. Und er hätte die Chance gehabt, sodann mit einem Sieg gegen Curdin Orlik den Schlussgang zu erreichen. Es reichte nur zu einem Remis.
Anders als mit allerhöchster Schwingkunst war es ja gar nicht möglich, die stabile Erbmonarchie der Berner nach zwölf Jahren und vier Königen zu beenden. Es reichte noch lange nicht, König Christian Stucki zu entthronen. Kaum war er vom Thron gestossen, stand da mit Matthias Aeschbacher einer auf, um nach der Krone zu greifen. Beinahe so wuchtig, kräftig und böse wie der gestürzte König. Aber nur fast. Joel Wicki, nicht der Kräftigste, nicht der Böseste, aber der Kompletteste, defensiv Beste von allen, hat ihn gebodigt.
Joel Wicki ist erst der zweite König der Innerschweizer nach Harry Knüsel. Matthias Aeschbacher wäre der 28. der Berner gewesen.
Der Sieg von Joel Wicki ist keine Überraschung für alle, die das Zeichen am Himmel richtig gedeutet haben. Kurz nach 17 Uhr hat es in Pratteln am Samstag geregnet. Die ersten Regenfälle an einem Eidgenössischen seit 1986. Auch damals gehen am Samstag über Sion Schauer nieder. Am Sonntag scheint dann die Sonne für Harry Knüsel, den ersten König der Innerschweizer. So wie jetzt für Joel Wicki.
Es war nicht nur die Auseinandersetzung zwischen den Innerschweizern und den Bernern. Die Ostschweizer waren auf Augenhöhe. Aber Pratteln hat ihnen keinen König, nicht einmal einen Kronprinzen, aber immerhin einen tragischen Helden beschert: Samuel Giger, der Dominator der Saison, der erklärte Favorit, kommt nach Zug 2019 zum zweiten Mal nicht einmal in die Nähe des Schlussganges. Er ist nun so etwas wie der Geni Hasler der Nordostschweizer: Zum zweiten Mal bei Weitem gut genug, um König zu werden. Aber zum zweiten Mal ist sein Nervenkostüm so zerbrechlich wie ein Plastikspielzeug. Geni Hasler kam immerhin zweimal in den eidgenössischen Schlussgang. Samuel Giger ist ein «Geni Hasler im Westentaschenformat».
Die Dramen im Sägemehl überstrahlen alles. Vergessen wir bei einer Bilanzierung für einmal die Folklore. Nur dass Francine Jordi so schön gesungen hat und uns Gölä erspart geblieben ist, wollen wir noch einmal sagen. Und auch, weil wir politisch korrekt sind, dass Bundespräsident Ignazio Cassis eine Festansprache gehalten hat, die so klug wie Francine Jordis Gesang schön war. Der Bundespräsident sagte, seine Heimat (das Tessin) habe schon mehrmals das Oberhaupt der Landesregierung (sozusagen den politisch Erstgekrönten) gehabt. Aber noch keinen König.
Bei einer Bilanz muss der Sport im Mittelpunkt stehen. Das Schwingen hat den Ausfall einer ganzen Saison (2020 wegen der Pandemie), ohne Schaden an der Seele zu nehmen, überstanden. Das Schwingen steht vor einer goldenen Ära, vor den besten Jahren seit der offiziellen Einführung der Monarchie, der Verbandsgründung von 1895.
Aber nur dann, wenn die Sägemehl-Ajatollahs standhaft bleiben und an ihrem mehr als hundert Jahre bewährten Regelwerk festhalten. Und modernem Teufelszeug wie der Videotie entsagen, die der Seele des Fussballs so schweren Schaden zufügt. Die Schwinger sind so mannhaft, dass sie Fehlentscheide hinnehmen wie der Bauer das Hagelwetter, die Ärmel hochkrempeln und weitermachen. Wie Joel Wicki. Ein VAR hätte vor drei Jahren im Schlussgang den Sieg von Christian Stucki gegen Joel Wicki nicht anerkannt. Ach, was wäre verloren gegangen, wenn wir nicht König Stucki hätten huldigen können. Und Joel Wickis Triumph von Pratteln wäre nur halb so schön.