Titanen werden in dramatischen Kämpfen gestürzt. Wie beispielsweise Jörg Abderhalden, der König von 1998, 2004 und 2007. Er verliert 2010 in Frauenfeld am Sonntagmoren im 5. Gang gegen den jungen, unbekümmerten, weit über sich hinauswachsenden Berner Kilian Wenger. Der alte König wird vom neuen König besiegt. Von einem, der in der Form seines Lebens unbesiegbar ist. Den an diesem Tag nichts und niemand aufhalten kann. Er wird später nie mehr so gut sein wie 2010 in Frauenfeld.
Aber manchmal ist es eine winzige, kaum wahrnehmbare Schwäche, die einem König völlig unerwartet zum Verhängnis werden kann. Natürlich ist Nick Alpiger «böse». Beispielsweise Sieger beim Innerschweizer Teilverbandsfest von 2019. Aber eigentlich keiner, den die «bösen» Berner fürchten. Keiner, dem ein Königs-Sturz zugetraut wird.
Im 6. Gang kann Christian Stucki gegen Nick Alpiger antreten. Psychologisch eher ein Kann als ein Muss. Die Rechnung der Berner: Mit einer Maximalnote kann der König doch noch nach der Krone greifen. Sich in eine gute Ausgangsposition für die Schlussgangqualifikation bringen.
Christian Stucki verliert einen der seltsamsten, mattesten und unspektakulärsten Gänge seiner grandiosen Karriere. Die Niederlage am Samstag gegen Pirmin Reichmuth ist noch ein letztlich verlorenes, aber heroisches Ringen mit einem Titanen. Nun ist es eine bitter enttäuschende Niederlage gegen einen gut zehn Zentimeter kleineren und zwanzig Kilo leichteren Gegner.
Nun spielen Grösse und Gewicht nicht die entscheidende Rolle. Und doch: Dass Christian Stucki von einem Aargauer vom Thron gestossen wird, das hatten sich die Berner nicht träumen lassen.
Diese Niederlage des Königs gibt einen faszinierenden Einblick in die Kunst des eidgenössischen Hosenlupfes. Es geht um ein Detail, das von blossem Auge fast nicht erkennbar ist. Nicht um eine brillante, für den Gegner völlig überraschende Angriffsvariante oder um eine Kombination verschiedener Schwünge oder um einen eiskalt geführten Konter. Es geht nur um einen Schritt.
Christian Stucki bekommt Nick Alpiger einfach nicht in den Griff. Den gut zehn Jahre jüngeren Gegner kann er nicht zermürben. Der Kampf wird ein mühseliger Knorz und schon scheint es, als ende die ganze, schwingerisch missglückte Übung mit einem Gestellten (Remis). Da erwischt Nick Alpiger, nach erfolgreichem Abwehrkampf, immer noch frisch und hellwach, den König in der Rückwärtsbewegung.
Der Titan, zermürbt, irgendwie frustriert, macht einen Schritt zurück und wird eiskalt erwischt. Es ist dieser Schritt rückwärts, der Christian Stucki zum Verhängnis wird. Ein Titan wie er muss dominieren, ist von seiner Postur, seiner Kraft her zur Dominanz verurteilt. Er darf niemals zurückweichen. Verliert er die Initiative, die Kontrolle, wird er verwundbar.
Der Aargauer Nick Alpiger hat den König aus dem Bernbiet gestürzt. Mit der Maximalnote von 10 Punkten. Auch wenn er die Chance seines Lebens im 7. Gang gegen Curdin Orlik nicht nützen kann (der Gestellte kostet ihn den Schlussgang), hat er Geschichte geschrieben. Die Art und Weise, wie er seine Rolle als Aussenseiter zu einem grandiosen Sieg genützt hat, gehört in jedes Schwinger-Lehrbuch. Aber auch als Warnung für alle Titanen.
Und es ist eben auch eine Warnung an alle Gegner der Berner: Es genügt nicht, den König aus dem Bernbiet zu stürzen. Nun greift mit Matthias Aeschbacher eben ein anderer Berner, einer, der zwei Gänge verloren hat (gegen Pirmin Reichmuth und Joel Wicki), im Schlussgang nach der Krone. Erneut muss er im Hochamt des Schwingens gegen Joel Wicki antreten. Den Verlierer des Schlussganges vor drei Jahren gegen Christian Stucki.