Echte Gewinner gibt es in der Corona-Pandemie keine, auch nicht im Tennis, wo zwar seit dem Sommer wieder gespielt wird, aber eben fast ohne Zuschauer. Am Sonntag endete die Saison mit dem Final der acht Jahresbesten in der Londoner O2-Arena. In einer Halle, die bis zu 17'500 Zuschauern Platz bieten würde und deren Akustik unerreicht ist, weil sie ursprünglich für Konzerte konzipiert wurde. Im hochklassigen Final setzte sich der Russe Daniil Medwedew (ATP 4) gegen den Österreicher Dominic Thiem (ATP 3) durch und gewann damit seinen bisher wichtigsten Titel. In Jubel brach er deshalb nicht aus. «Nicht zu feiern, ist mein Ding», sagte er.
Medwedew ist der Mann der Stunde und überholte mit den Turniersiegen in Paris-Bercy und nun in London Roger Federer in der Weltrangliste. Der Schweizer beendet das Jahr, in dem er ein Turnier bestritt und im Januar bei den Australian Open die Halbfinals erreicht hatte, wo er dem späteren Sieger Novak Djokovic unterlegen war, auf dem fünften Platz. Noch vor Alexander Zverev, der wie Federer in Melbourne in den Halbfinals stand, bei den US Open und in Paris-Bercy den Final erreichte und in Köln zwei Turniere gewinnen konnte. Auch vor dem Russen Andrei Rublew, der 2020 die meisten Turniere (5) gewann und die meisten Siege (wie Djokovic 41) holte.
Federer profitiert davon, dass die Profi-Organisation ATP bereits im April entschieden hat, die Weltrangliste einzufrieren. Seither gilt die Regelung, dass die 18 besten Resultate aus dem Zeitraum zwischen März 2019 und März 2020 gelten. Davor fielen Punkte spätestens nach 52 Wochen aus der Wertung, nun geschieht das spätestens nach zwei Jahren. De facto wurde also eine Weltrangliste eingeführt, welche die besten Resultate aus zwei Jahren berücksichtigt. Ein Lösung, die Rafael Nadal seit Jahren propagiert und ihm erlaubt hat, in diesem Jahr als Titelverteidiger auf die US Open zu verzichten, ohne dass ihm die 2000 Punkte aus der Wertung gefallen sind.
Allerdings hat die Regelung einen Haken: Die 18 Resultate, die in die Wertung einfliessen, müssen bei 18 verschiedenen Turnieren gesammelt worden sein. Heisst: Wer bei jenen Turnieren, die in diesem Jahr noch stattfinden konnten, schlechter abschnitt als im Vorjahr, bei dem bleibt das Resultat aus dem Vorjahr in der Wertung. Konkret bedeutet dies, das kein Spieler Ende des Jahres weniger Punkte in der Wertung hat als am 16. März, als die Weltrangliste eingefroren wurde. Die neue Regelung belohnt also einerseits Spieler, die in diesem speziellen Jahr erfolgreich waren (wie zum Beispiel Andrei Rublew), andererseits schützt sie die besser klassierten.
Grösster Profiteur ist Roger Federer, der sich im Januar und im Sommer jeweils einer Operation am Knie unterziehen musste und im Januar bei den Australian Open in den Tennis-Zirkus zurückkehren will. Er erreichte im Vorjahr in Wimbledon den Final (1200 Punkte), bei den French Open die Halbfinals (720 Punkte) und bei den US Open die Viertelfinals (360 Punkte). In der Wertung blieben auch die 1000 Punkte, die er 2019 für seinen Sieg in Miami erhielt und die 600 Punkte für den Finaleinzug in Indian Wells. Gleiches gilt für die Turniersiege in Halle und die vor der Absage stehenden Swiss Indoors Basel, die ihm je 500 Punkte brachten und die 400 Punkte für die beiden Gruppensiege bei den ATP Finals 2019.
In der bereinigten Weltrangliste, die nur Resultate aus diesem Jahr berücksichtigt, würde Federer Rang 28 belegen. Als er ab 2016 ein halbes Jahr pausiert hatte, fiel er auf Rang 17 zurück, ehe er bei den Australian Open 2017 seinen 18. Grand-Slam-Sieg feierte. Zu den Profiteuren zählen auch der Italiener Matteo Berrettini (ATP 10), der in der Jahreswertung nur Rang 38 belegt, oder Nick Kyrgios (ATP 45 statt 90).
Grösster Verlierer ist der Italiener Lorenzo Musetti (ATP 127), der in der Weltrangliste 66 Plätze schlechter klassiert ist, in der Jahreswertung wird er im 61. Rang geführt. Gleiches gilt für Landsmann Jannik Sinner (ATP 37 statt 20), und den Südafrikaner Kevin Anderson (ATP 81 statt 50). Stan Wawrinka beendet das Jahr auf Position 18 (+1 gegenüber der Jahreswertung).
Wegen einer Statistik ist keiner Favorit. Federer ist Mitfavorit, weil vermutet wird, dass er trotz seiner langen Pause in diesem Turnier recht weit kommen könnte, und weil, je länger ein Spieler im Turnier ist, er umso besser in Form kommen könnte. Federer ist zudem Mitfavorit, weil er in Australien 2017 nach einer ebenfalls langen Pause das Turnier gewonnen hat.
Eine Favoritenrolle mit einer derartigen Statistik begründen zu wollen, entbehrt jeglicher Grundlage. Wir werden sehen, wie es heraus kommt. Ich bin jedenfalls gespannt, wie sich RF präsentieren wird.