Als Jannik Sinner am Samstagnachmittag gegen Vasek Pospisil seinen ersten Matchball verwertet, machte er nicht den Eindruck, als habe er soeben einen Höhepunkt in seiner noch jungen Tenniskarriere erreicht. Kein Schrei, kein euphorischer Jubel – der Italiener streckte die Arme kurz in die Höhe, lächelte und blickte dann entschlossen in seine Box.
Dann trottete er entspannt zum Netz, wo er dem unterlegenen Pospisil aufmunternd auf den Rücken klopfte und sich kurz mit ihm unterhielt. Und auch in der folgenden Pressekonferenz stellte Sinner ruhig fest: «Das ist ein schönes Gefühl.» So, als hätte er das ganze Prozedere schon etliche Male erlebt.
Dabei ist gleich auf mehrere Arten erstaunlich, was der Italiener an diesem Samstag erreicht hatte. Einerseits weil er mit seinen 19 Jahren zum jüngsten Turniersieger seit Kei Nishikori im Jahr 2008 geworden ist. Vor allem aber, weil er erst vor fünf Jahren damit begonnen hatte, sich richtig dem Tennis zu widmen. Als Sinner ein Kind war, hätte er wohl nie erwartet, an diesem November-Wochenende in einer Tennishalle in Sofia zu stehen. Viel eher im finnischen Levi, wo normalerweise die alpinen Ski-Fahrer den ersten Slalom der Saison bestreiten.
Das Skifahren wurde dem jungen Jannik einst fast in die Wiege gelegt. Sinner wuchs in Südtirol auf, in Sexten, wo seine beiden Eltern als Koch und als Kellnerin in einer Skihütte arbeiteten. So stand auch Sinner schon als kleines Kind auf Skis – wie es sich für einen Südtiroler gehört, wie er immer wieder betonte. Später meldeten ihn die Eltern dann auch im örtlichen Skiclub an, wo er schnell Fortschritte machte. 2008 wurde Sinner als 7-Jähriger italienischer Meister im Riesenslalom, 2012 Vizemeister.
Das Tennis war damals hingegen eher ein Hobby für Sinner. Im Sommer, wenn die Pisten geschlossen waren, schlug er ab und zu Bälle mit seinem Vater oder einem Coach. Besonders viel Spass hatte er dabei zu Beginn nicht. Und da Sinner gleichzeitig auch noch im Fussballverein war, entschied er sich mit 7 Jahren einst, das Tennis bleiben zu lassen.
Dass aus Sinner dereinst doch ein Tennis-Profi werden sollte, hat der Italiener seinem Vater Hanspeter zu verdanken. «Als ich für ein ganzes Jahr keinen Tennisschläger in der Hand hatte, kam er und sagte, versuch es doch noch einmal», so Sinner gegenüber sportnews.bz. Der Junge willigte ein – und fand plötzlich Gefallen am Spiel mit dem gelben Filzball. So entschied er sich, wieder regelmässiger zu spielen.
Dabei machte er einige Kenner aus der Region auf sich aufmerksam. Heribert Mayr, sein erster Coach, erinnert sich gegenüber der Tageszeitung: «Andrea Spizzica [ein anderer Tennis-Coach, Anm. d. Red.] hat mich angerufen. Er sagte, er hätte da ein ‹Biabl› aus Sexten, ich solle ihn mir mal anschauen. Ich habe mir ihn in St.Georgen angeschaut. Da habe ich schon gesehen, dass er koordinatorisch und motorisch perfekt ist, technisch etwas weniger.»
2014 musste sich Sinner dann schliesslich zwischen einer Ski- und einer Tenniskarriere entscheiden. «Ich habe mich für Tennis entschieden, da es ein Spiel ist, das im Wettkampf länger als nur eine oder anderthalb Minuten dauert. Das hat mich gereizt», begründet er seine Wahl gegenüber Booking Südtirol.
So liess Sinner das Skifahren bleiben und setzte von da an alles auf die Karte Tennis. Wenige Monate darauf verliess er deshalb Südtirol, weg von seiner Familie, und zügelte ins ligurische Bordighera, wo ihn der renommierte Tenniscoach Riccardo Piatti in seiner Akademie aufnahm. Piatti, einst Jugendtrainer von Novak Djokovic, sollte Sinner bei dessen Weiterentwicklung helfen.
Als junger Teenager deutete trotzdem wenig darauf hin, dass aus Sinner einst einer der vielversprechendsten Spieler auf der Tour werden könnte. Da er als Kind verhältnismässig spät mit regelmässigen Trainings begonnen hatte, war er technisch weniger weit als viele Konkurrenten. Zudem galt er nicht als überdurchschnittlich talentiert.
Bei Juniorenturnieren blieben die grossen Erfolge aus, in der Junioren-Weltrangliste kam er nie über den 133. Platz hinaus. «Ich habe damals sein wahres Potential noch nicht erkannt», gesteht sein damaliger Trainer Spizzica gegenüber sportface.it. «National hatte er zwar immer wieder gute Resultate, aber körperlich und athletisch war er noch im Rückstand.»
Erst 2019 begann dann der stetige Aufstieg Sinners – dafür sogleich auf der Profitour. Im Februar gewann er überraschend das Challenger-Turnier von Bergamo, kurze Zeit später holte er in Trento seinen ersten ITF-Titel. Im April folgte sein erstes Spiel auf der ATP-Tour in Budapest, wo er gegen Mate Valkusz auch gleich seinen ersten Sieg feiern konnte. In der Folge etablierte sich Sinner auf der Tour und debütierte im August an einem Grand-Slam-Turnier. An den US Open scheiterte er zwar in der 1. Runde an Stan Wawrinka, zeigte dabei aber eine starke Leistung und nahm dem Schweizer einen Satz ab.
Zum Ende des Jahres feierte Sinner dann seinen bis dahin grössten Erfolg: Der Südtiroler gewann als Aussenseiter die NextGen-Finals in Turin und beendete das Jahr als erst 18-Jähriger in den Top 80. Ein Kunststück, das vor ihm erst Rafael Nadal, Novak Djokovic, Andy Murray und Denis Shapovalov gelungen war.
Spätestens seit diesem Triumph haben ihn viele Tennis-Experten als einer der vielversprechendsten jungen Spieler auf dem Radar. «Er hat das Potential, um mehrere Grand Slams zu gewinnen», sagte Tennis-Legende John McEnroe vor dieser Saison. Und auch Roger Federer meinte vor den Australian Open: «Sinner ist ein aufregender Spieler, er ist gleich gefährlich auf der Vor- und der Rückhand und sowohl offensiv als auch defensiv stark. Wir werden immer mehr von ihm hören.»
“Sentiremo parlare di Jannik #Sinner, tennista spettacolare e ragazzo d’oro: una combinazione che adoro”
— Eurosport IT (@Eurosport_IT) January 20, 2020
E se a dirlo è Roger #Federer... 🤞🎾🇮🇹#EurosportTENNIS #AusOpen #AO2020 | https://t.co/yeuDfRYfGo pic.twitter.com/y535Yy5L2y
Tatsächlich machte Sinner 2020 noch einen grossen Schritt weiter in Richtung Weltspitze: Im Februar bezwang er in Rotterdam mit David Goffin erstmals einen Top-10-Spieler, im September mit Stefanos Tsitsipas die Weltnummer 6.
Kurz darauf sorgte Sinner auch erstmals an einem Grand Slam für eine Überraschung: Dank Siegen unter anderem gegen Goffin und Alexander Zverev erreichte der Südtiroler den Viertelfinal der French Open. Dort scheiterte Sinner zwar an Sandkönig Rafael Nadal, schrammte aber nur knapp am Gewinn des ersten Satzes vorbei. Dabei fand auch der Spanier nur lobende Worte für seinen jungen Gegner: «Er hat alles, um einer der besten Spieler der neuen Generation zu sein», so Nadal. «Er ist ein Kandidat für die Weltnummer 1.»
Dass aus dem einst nur mässig talentierten Junior der beste Teenager auf der Tour geworden ist, liegt vor allem an seiner Einstellung. Sinner ist weniger explosiv und spektakulär als andere Youngster wie Denis Shapovalov oder Andrej Rublew, dafür aber extrem reif für sein Alter. «Er hat die Schläge, aber vor allem hat er den Kopf. Ich habe noch nie mit einem 18-Jährigen gearbeitet, der mental so stark wie Jannik ist», sagt sein Trainer Piatti.
Auch sein Juniorencoach Mayr erzählt, dass ihn vor allem Sinners Einstellung schon früh beeindruckt habe. «Jannik hatte diese Abgebrühtheit schon mit 12 oder 13. Er hat keine Miene verzogen, er hat sein Spiel gemacht. Er ist kopfmässig sehr stark.»
Tatsächlich zeichnete Sinner in dieser Saison vor allem aus, dass er auch nach Rückschlägen ruhig bleibt. In Rom bezwang er Stefanos Tsitsipas in drei Sätzen, obwohl er den zweiten nach vergebenen Matchbällen noch verloren hatte. In Köln rang er den französischen Altmeister Gilles Simon nieder, nachdem er im zweiten Satz chancenlos geblieben war und ihn gleich mit 0:6 verloren hatte. Und im Final von Sofia blieb er ruhig, als er eine Satz- und Breakführung aus der Hand gab und im dritten Durchgang gegen den deutlich routinierteren Pospisil ins Tiebreak musste.
Ausserdem hat Sinner zuletzt technisch weitere Fortschritte gemacht. Neben seiner zweihändigen Backhand, die immer schon überdurchschnittlich gut war, haben sich auch Aufschlag und Vorhand deutlich verbessert, was Sinner zu einem äusserst kompletten und konstanten Grundlinienspieler macht. «Eine Mischung aus Lleyton Hewitt und Andy Murray», beschreibt ihn sein ehemaliger Trainer Massimo Sartori. Grosse Schwächen offenbart Sinner trotz seines jungen Alters fast keine – einzig das Netzspiel weist noch einige Mängel auf.
Mit dem Titel in Sofia hat Sinner nun einen weiteren Meilenstein in seiner noch jungen Karriere erreicht. Er beendet das Jahr auf Position 37 der Weltrangliste, so weit vorne wie noch nie. So nimmt auch der mediale Rummel um seine Person immer stärker zu, in Italien wird er als künftiger Star betrachtet.
Druck will sich Sinner deswegen aber keinen machen. Auch Trainer Piatti sagt im Interview mit Sky Sport: «Ich denke, er wird im nächsten Jahr wichtige Spiele gewinnen. Aber er wird auch wichtige Spiele verlieren. Er wird zwei, drei Jahre mit dieser Situation leben müssen. Und dann geht seine Karriere so richtig los.»