Le Mans hat eine ganz besondere Bedeutung für Tom Lüthi. Hier hat er am 15. Mai 2005 seinen ersten GP gewonnen. Dieser Sieg war ein Schlüsselmoment in seiner Karriere. Es machte sozusagen «Klick». Von diesem Augenblick an wusste er, dass er die Welt erobern kann, dass für ihn alles möglich ist, sogar der WM-Titel. Er wurde schliesslich 125er-Weltmeister und vor Roger Federer Sportler des Jahres.
Seither fährt der Emmentaler dem nächsten Titel hinterher. Bei den 250ern war er drei Jahre lang chancenlos (2007, 2008, 2009). In der Moto2-WM gilt er hingegen jedes Jahr als Titelanwärter. Aber die hohen Erwartungen konnte er bisher nie erfüllen. Er gewann zwar Rennen. Aber der Titelkampf war schon nach der halben Saison für ihn jedes Mal vorbei.
Nun spricht vieles dafür, dass wieder ein Sieg in Le Mans zum Wendepunkt seiner Laufbahn wird. Dass es wieder «Klick» macht. Dass es im Rückblick wieder das Rennen wird, das der Anfang eines grandiosen Erfolges war.
Die Art und Weise, wie Tom Lüthi in Le Mans die Konkurrenz dominiert hat, wie er sich gleich nach dem Start aus der zweiten Reihe im «Nahkampf» durchsetzte und ganz vorne behauptete und schliesslich das Rennen dominierte, lässt nur einen Schluss zu: Er kann den Titel holen. Weltmeister Tito Rabat sagte nach dem Rennen: «Es war ganz einfach unmöglich, Tom zu besiegen.» WM-Leader Johann Zarco, der mit den 3. Platz Vorlieb nehmen musste, ergänzte. «Ich konnte ihm selbst dann nicht folgen, wenn er Fehler machte.»
Tom Lüthi strahlt endlich wieder das Selbstvertrauen und die Gelassenheit eines Champions aus. Es ist die Lockerheit, die im Motorradrennsport so entscheidend ist.
Nach dem Wechsel von Suter zu Kalex hatte es vor der Saison einen leisen Zweifel gegeben. Die deutschen Hersteller sagten, dass nur die bisherigen Kunden das neue Modell erhalten und alle neuen mit der 2014er Version vorlieb nehmen müssen. Tom Lüthi und WM-Leader Johann Zarco fahren deshalb «nur» die 2014er Version – und sind erfolgreich. Weltmeister Tito Rabatt (WM-6.) und der letztjährige WM-Zweite Mika Kallio (WM-9.) haben hingegen nach wie vor Schwierigkeiten mit dem 2015er Modell.
2005 kletterte Tom Lüthi nach seinem Sieg in Le Mans auf den 2. Platz der Zwischenwertung. 12 Punkte hinter Mika Kallio. Auch jetzt rückt der Schweizer wieder auf den 2. Rang in der WM vor. Der Rückstand auf Johann Zarco beträgt 21 Punkte. Es gibt eine alte Regel: So lange der Rückstand nicht grösser ist als ein Rennen, ist ein Titelkampf völlig offen. In einem Rennen sind maximal 25 Punkte (für den Sieg) möglich. Bei einem Rückstand von 21 Punkten ist also noch alles möglich.
Es gibt noch eine Parallele zum Weltmeisterjahr. 2005 war Tom Lüthi Single. 2015 ist er nach der Trennung von seiner langjährigen Freundin Fabienne Kropf wieder Junggeselle. Er wird es so nie bestätigen und es ist eine politisch nicht korrekte und etwas boshafte Behauptung. Aber es ist wie es ist: Die langjährige Beziehung mit dem klugen, schönen Model lenkte ihn ab und kostete ihn Energie. Jetzt ist er wieder hundertprozentig auf den Sport konzentriert. Die Erfahrung hilft ihm, alle störenden Einflüsse auszublenden.
Der Wechsel in ein neues Team und auf einen neuen Töff (Suter zu Kalex) hat ihn zudem aus langjährigen Gewohnheiten und einer Komfortzone gerissen. Diese Wechsel zurück an die Ursprünge des Rennsportes wirken wie eine Verjüngungskur. Einerseits diese neu entfachte Leidenschaft und andererseits die langjährige Erfahrung – Tom Lüthi fährt seit dem ersten Jahr der Moto2-WM (2010) und hat mehr Erfahrung als jeder andere Titelanwärter – machen ihn auf und neben dem Töff zum Champion. Zum Titelanwärter.
Der Erfolg von Tom Lüthi macht für Dominique Aegerter (24) alles noch schwieriger. Er sagte auch in Le Mans: «Ich finde keine Erklärung. Ich weiss nicht, was ich machen soll.» Er hat das gleiche Material und die gleichen Voraussetzungen wie Tom Lüthi und auch Zugriff auf die Einstellungs-Daten seines Teamkameraden. Wenigstens reichte es für Platz 10. Die beste Saisonklassierung.
Aber das ist für einen, der ausgezogen ist, um Rennen zu gewinnen und Weltmeister zu werden, eine bittere Niederlage. In der WM steht er bloss auf Rang 20 und er weiss jetzt schon: 2015 wird er im Titelkampf keine Rolle spielen. Immerhin hat er in Le Mans Tom Lüthi zum Sieg gratuliert. So wie es sich gehört. Aber er hat seinem Teamkollegen nur die Hand gedrückt. Er hat ihn nicht umarmt, wie das sonst teamintern Brauch ist. Eine Freundschaft ist zu Ende, die beim Saisonstart noch zelebriert worden ist, die es aber gar nie gegeben hat. Rivalen können auf diesem Niveau im gleichen Team nicht Freunde sein.