Mitte der 90er-Jahre ist Jan Ullrich der Shooting-Star am deutschen Radsport-Himmel. Schon bei seiner ersten Tour de France macht der Jüngling aus Ostdeutschland einen hervorragenden Eindruck. Doch noch darf der junge Debütant nicht gewinnen. Als Fahrer im Team Telekom muss er seinem Kapitän, dem Dänen Bjarne Riis, zum Tour-Sieg verhelfen. Ullrich selbst erreicht Paris im weissen Trikot des besten Nachwuchsfahrers.
Bei der 84. Tour im folgenden Jahr ist Ullrich wieder als Edelhelfer für Riis vorgesehen. Doch in der 10. Etappe durch die Pyrenäen, hinauf nach Andorra-Arcalis, sprengt der Rotschopf mit den Sommersprossen die Telekom-Stallorder.
Zehn Kilometer vor dem Ziel führt Ullrich das Peloton mit den Favoriten Marco Pantani, Richard Virenque, Abraham Olano und Riis an. Immer und immer wieder blickt er sich nach seinem Boss um, bis Riis endlich erschöpft nickt. «Wenn du dich stark genug fühlst, fahr los», sagt er noch.
Sofort erhöht Ullrich das Tempo. In einer scharfen Linkskurve geht er aus dem Sattel. Die Attacke sitzt, scheinbar mühelos fährt er der Konkurrenz davon. Souverän und locker bleibt er auch bei der extremen Steigung im Sattel sitzen. In seiner unnachahmlichen Art, mit den Händen am Unterlenker, fährt er dem Etappensieg entgegen.
Im Ziel beträgt der Vorsprung auf die ersten Verfolger Virenque und Pantani 1:08 Minuten, Riis verliert gar fast dreieinhalb Minuten. Da der bisherige Leader Cédric Vasseur komplett einbricht, darf sich Ullrich das Gelbe Trikot überstreifen, das er bis Paris nicht abgeben wird.
In der Heimat löst der erste (und bisher einzige) Toursieg eines Deutschen einen Radsport-Boom aus. An diesem Sommertag im Juli beginnt quasi eine neue Zeitrechnung, ähnlich wie im Tennis oder in der Formel 1 nach den Siegen Boris Beckers in Wimbledon oder den WM-Titeln von Michael Schumacher. Millionen versammeln sich fortan Juli für Juli vor dem Bildschirm oder pilgern an die Rennstrecken nach Frankreich.
Sie alle wollen Ullrich sehen. Was den zurückhaltenden Rostocker zum Aushängeschild schlechthin macht, ist seine umgängliche Art: Er isst gern Torte, trinkt Rotwein und lässt es sich im Winter auch sonst gut gehen. Die Pfunde speckt er für den Sommer mit Gewaltskuren ab. Ullrich wirkt wie ein Mann aus dem Volk, ein Kumpeltyp eben.
Auch die Zeitungen sind voll Staunens. «Der neue Riese», titelt «L'Equipe». Vom «König Ullrich» spricht «Le Parisien», gar zum Kaiser kürt ihn «Le Figaro». Die Experten sind begeistert vom jungen Deutschen. Die Tour-Legenden Eddy Merckx, Miguel Indurain und Bernard Hinault prophezeien Ullrich eine grosse Zukunft. Sie trauen ihm zu, die Tour fünfmal oder noch häufiger zu gewinnen. Doch Ullrichs Karriere verläuft ganz anders.
1998 ist Marco Pantani am Berg zu stark und ab 1999 taucht der übermenschliche Lance Armstrong auf. Seine Duelle mit Ullrich nehmen epische Ausmasse an, immer mit dem besseren Ende für den Texaner. Während Armstrong die Tour siebenmal in Serie gewinnen kann, muss sich Ullrich mit zweiten Plätzen zufrieden geben.
Später folgen andere Probleme: Zwei Knieoperationen, Führerscheinentzug nach Fahrerflucht und der positive Dopingtest im Jahr 2002. Angeblich hat er in der Disco ein paar Pillen geschluckt. Die grosse Bombe platzt aber erst kurz vor der Tour 2006.
Ullrich wird von der Tour ausgeschlossen. Er soll mit dem spanischen Doping-Arzt Eufemiano Fuentes zusammengearbeitet haben. Ende Februar 2007 erklärt er seine Karriere für beendet. Gut einen Monat später werden ihm Fuentes-Blutbeutel per DNA-Abgleich eindeutig zugeordnet. Doch trotz aller Indizien streitet der Sportler alles ab. «Ich habe niemanden betrogen», ist das Einzige, was er zu den Doping-Vorwürfen immer wieder gebetsmühlenartig predigt.
Seit einem Bericht der Freiburger Dopingkommission ist bekannt, dass im Team Telekom seit dem Mallorca-Trainingslager von 1995 mit Epo gedopt wurde. Riis hat für die 90er-Jahre selbst Epo-Doping zugegeben, Ullrich schweigt auch dazu. Deshalb bleibt bis heute juristisch ungeklärt, ob er sauber nach Andorra-Aracalis hinauf «geflogen» ist.
Nach den unzähligen Doping-Geständnissen ist es aber undenkbar, dass das flächendeckende Doping-System im Team Telekom ausgerechnet Jan Ullrich nicht erfasst haben könnte. Ein Epo-Missbrauch kann ihm nie nachgewiesen werden, im Februar 2012 spricht der Internationale Sportgerichtshof CAS den Deutschen wegen dessen Verstrickung in den Fuentes-Skandal aber schuldig.
Ullrichs Ruf ist spätestens da ruiniert, doch es ist paradox: In den Köpfen der Radsport-Fans wird der Höllenritt nach Andorra und der erste Tour-Sieg eines Deutschen wohl mehr haften bleiben.